"Es wird unterschätzt, wie stark die Wirkung der Entnazifizierung war." Michael Hubenstorf sieht die NS-Kontinuitäten in der Psychiatrie heute anders als noch vor 30 Jahren.

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STANDARD: In den letzten Monaten wurden etliche Fälle von inhumanen psychiatrischen Behandlungen von Heimkindern in Österreich bekannt. Sie selbst haben das vor vielen Jahren einmal als „die diskrete geistige Fortsetzung der NS-Psychiatrie" bezeichnet. Stand das wirklich alles in einer NS-Tradition?

Hubenstorf: Diese Aussage ist ziemlich alt und fiel vor rund dreißig Jahren im Zusammenhang mit dem Prozess zwischen Werner Vogt und Heinrich Gross, der ab 1940 an der Ermordung behinderter Kinder am Spiegelgrund beteiligt war. Heute sehe ich die Sache etwas differenzierter, was vor allem auch daran liegt, dass bis vor rund zehn Jahren alle wichtigen Quellen mehr oder weniger versperrt waren. Vieles davon hätte man lieber vor 30 Jahren gewusst, als die Sachen politisch sehr brenzlig waren. So kommt die Wahrheit 50 Jahre später ans Licht - was in der Geschichte leider üblich ist.

STANDARD: Wie groß war die Kontinuität in der Psychiatrie vor und nach 1945 wirklich?

Hubenstorf: Es gab natürlich einige Ärzte, die ich als unbelehrbare Nazis bezeichnen würde und die auch nach 1945 an ihrer alten Ideologie festhielten, aber wussten, dass sie die nur versteckt durchsetzen können. Dazu gehört etwa Hans Bertha, der in der NS-Zeit an der Tötung von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten beteiligt war und nach einem langen Hin und her 1960 zum Leiter an der Grazen Nervenklinik wurde, nachdem er schon viel früher seine Lehrbefugnis zurückerhalten hatte. Ein ähnlich gelagerter Fall in Kärnten war der Neurologe Otto Scrinzi, der erst heuer im Jänner starb. Weniger bekannt ist der Kärntner Psychiater Oskar Kauffmann, der NSDAP-„Landesärzteführer" und SS-Mitglied war, und 1954 auf Bestellung durch die Landesregierung Direktor des Landeskrankenhauses Klagenfurt und im Juni 1954 Präsident der Ärztekammer in Klagenfurt wurde. Er starb allerdings bereits 1955.

STANDARD: Das waren also eher die Ausnahmen?

Hubenstorf: Ja, und ich denke, dass womöglich bis heute unterschätzt wird, wie stark die Wirkung der Entnazifizierung trotz aller Inkonsequenzen war. Die früheren Nazis wie Heinrich Gross konnten in der Zweiten Republik nicht mehr mit dem weitermachen, was sie vor 1945 vertraten. Und in fast allen Fällen gab es Unterbrechungen in der Karriere von fünf, sieben oder mehr Jahren.

STANDARD: Das heißt, Sie halten auch den Fall Gross als untypisch für die Situation nach 1945?

Hubenstorf: Ja, Gross, der 1953 in der SPÖ Unterschlupf fand und fortan unbehelligt blieb, ist wenig repräsentativ, zumal für die Situation in Wien. Da gab es bloß noch einen zweiten ähnlichen Fall: den des Neurologen Walter Birkmayer, der SS-Mitglied war, nach 1945 ebenfalls SPÖ-Mitglied wird und als Fernseharzt im Seniorenclub bekannt wurde.

STANDARD: Zuletzt wurde auch der Fall des Kinderpsychiaters Andreas Rett diskutiert, der ebenfalls NSDAP-Mitglied war, was er selbst nach 1945 beharrlich verschwieg. Und Rett galt bis weit hin in die 1980er-Jahre als fortschrittlicher Sozialdemokrat.

Hubenstorf: Dieser Fall ist anders gelagert als der von Gross oder Birkmayer: Rett trat zwar als Student in Innsbruck der NSDAP bei, promovierte dann aber erst 1949. Er war also viel jünger, und für die Standards der 1960er-Jahre hatte er entsprechend auch keine NS-Vergangenheit. Tatsächlich gäbe es ohne ihn viele fortschrittliche Maßnahmen für Behinderte nicht - auch wenn manches aus seinen Büchern heute allerdings befremdlich klingen mag.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Hubenstorf: In seinem Buch "Das hirngeschädigte Kind" von 1981 redete er zum Beispiel immer noch von „Negern". Und er verteidigte damals das alte Sonderschulsystem, dass man etwa in Skandinavien und vielen anderen Ländern schon abgeschafft hat. Vor kurzem stellte der Innsbrucker Erziehungswissenschafter Volker Schönwiese Retts verschwiegene NS-Mitgliedschaft und Retts nicht immer ganz fortschrittliche Haltung im Umgang mit Behinderten in einen Zusammenhang. Meines Erachtens ist das aber ein Kurzschluss, das eine mit dem anderen zu verbinden.

STANDARD: Wenn die Fortschreibung einer nationalsozialistischen Tradition nach 1945 allem Anschein nach doch nicht so stark war, warum kam des dennoch zu diesen inhumanen Übergriffen, die in den letzten Monaten bekannt wurden?

Hubenstorf: Stärker als die NS-Kontinuität scheint mir eine zweite Tradition, die ich als katholisch-konservativ bezeichnen würde. In den psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten nach 1945 waren besonders viele Ärzte tätig, die dem Cartellverband angehören - und das reichte weit zurück. Bereits vor 1938 waren die Hälfte der Anstaltsärzte in den christlich-sozial regierten Bundesländern CVer. Und etliche Söhne der Anstaltsleiter vor 38 werden dann nach 1945 Leiter derselben oder anderer Anstalten.

STANDARD: Was war das Besondere dieser katholisch-konservativen Psychiatrie?

Hubenstorf: Für diese Ärzte war strikte Anstaltsverwahrung die geeignete Therapie. Zugleich waren sie sehr kritisch gegen die Maßnahmen der Nationalsozialisten - also Zwangssterilisierungen, eugenische Abtreibung -eingestellt. Im Umgang mit den Patienten sind diese Ärzte aber sehr autoritär. Ein gutes Beispiel für diesen Umgang mit Patienten ist die Tiroler Kinderpsychiaterin Maria Nowak-Vogl, die bis Ende der 1970er-Jahre Heimkinder mit Röntgenstrahlen und Epiphysan behandeln ließ und deshalb in den vergangenen Monaten wieder in die Kritik kam: Nowak-Vogl erhielt ihre Ausbildung bei einem deutlich konservativen Psychiater und habilitierte sich bei einem konservativen Kinderarzt.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Rolle von Hans Hoff ein, der nach 1945 aus der Emigration zurückkehrte und der heute auch als Inbegriff eines repressiven Psychiaters gilt?

Hubenstorf: In den 1950er-Jahren war er das meiner Ansicht sicher nicht. Hoff versuchte vielmehr eine Reform in der Psychiatrie zu initiieren und brachte aus der Emigration neue Ansätze mit. Natürlich waren dabei auch bestimmte Behandlungsmethoden, die heute völlig verpönt sind, also die Neurochirurgie - Stichwort Lobotomie - oder die Malarietherapie seines ehemaligen Lehrers Julius Wagner-Jauregg. Aber Hans Hoff, und das wird heute gerne vergessen, war auch derjenige, der in dieser Zeit psychoanalytische Therapien und eine Vielzahl von sozialpsychiatrischen Projekten massiv gefördert hat. Resümierend würde ich also sagen, dass es nach 1945 in der Psychiatrie eine Vielzahl von verschiedenen ideologischen Strömungen gab. Dieses Amalgam muss man erst noch im Detail aufarbeiten.

STANDARD: Inwieweit nahm Österreich damit in der Psychiatrie im europäischen Vergleich eine Sonderstellung ein?

Hubenstorf: Österreich ist nach 1945 bis in die 1970er-Jahre vergleichbar mit Belgien oder Irland, also den katholisch geprägten Ländern. Man darf auch nicht vergessen, dass auch Italien bis zur Psychiatriereform in den 1970er-Jahren ebenfalls ein besonders rückständiges Land war.

STANDARD: Heute gelten die damals angewendeten Verfahren vielfach als inhuman, also etwa der Elektroschock. War Österreich diesbezüglich eine Ausnahme oder wurden der auch in anderen Ländern praktiziert?

Hubenstorf: Österreich war nicht die große Ausnahme. Der Elektroschock ist in der Psychiatrie praktisch überall praktiziert worden. Viele der Psychiater, die aus Nazi-Deutschland in die USA emigrieren mussten, waren ganz klare Befürworter des E-Schocks wie etwa Leo Alexander, der beim Nürnberger Ärztekongress als zentraler Gutachter auftrat und 1947 den Nürnberger Kodex für medizinische Versuche formulierte. Der förderte den E-Schock noch in den 1960er-Jahren. Aber natürlich war der Elektroschock auch von den Nazis im Zuge der Patiententötungsorganisation T4 verwendet worden.

STANDARD: Wie war das mit der Malariatherapie, die dank Julius Wagner-Jauregg, der dafür den Nobelpreis erhielt, eine besondere österreichische Tradition hat?

Hubenstorf: Den Einsatz der Malariatherapie, von Fiebertherapie und Fieber erzeugenden Stoffen wie Pyrifer nach 1945 gab es auch anderswo. Sicher ist, dass der Erfolge dieser Behandlung im Spätstadium der Syphilis die Malariatherapie sehr gefördert hat und dazu beitrug, dass sie auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg praktiziert wurde. Penicillin wurde zwar 1942 eingeführt, aber es dauerte sehr lange, bis das Mittel für alle erhältlich war - man denke nur an den Film „Der dritte Mann", wo es genau darum geht. Noch in den 1950er-Jahren war man sich nicht sicher, ob man die alte Malariatherapie wirklich abschreiben soll.

STANDARD: Kritisiert wurden in den letzten Monaten aber auch Medikamententests an Heimkindern, denen unter anderem Epiphysan - ein Mittel aus der Tiermedizin - verabreicht wurde, um sie zu „dämpfen".

Hubenstorf: Grundsätzlich muss man sagen, dass die österreichische Medikamentenzulassung damals für ihre relative Zurückhaltung bekannt war. Deshalb gab es in Österreich etwa auch vergleichsweise wenige Contergan-Fälle. Ob Medikamente hier in den 1950er und 1960er-Jahren rücksichtsloser getestet wurde als anderswo, lässt sich schwer sagen. Es gibt natürlich einige Fälle. Aber jene, die heute bekannt sind, haben kaum etwas mit Kontinuitäten der NS-Psychiatrie zu tun. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 07.11.2012)