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Für die Neurowissenschaften scheinen Tierversuche derzeit unverzichtbar. Das Gehirn kann nicht außerhalb des Organismus studiert werden.

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Der Ministerrat hat die Novelle des Tierversuchsgesetzes am Dienstag beschlossen.

Die Dimension des Dilemmas zeigt sich anhand einer "Volkskrankheit". Krebserkrankungen sind die zweithäufigste Todesursache in Österreich. " Ohne Tierversuche könnte ich keine seriöse Krebsforschung machen", sagt Maria Sibilia, Professorin an der Med-Uni Wien. Die Arbeit mit der Labormaus ermögliche ihr, einen Tumor künstlich zu erzeugen. Sei es, um die Komplexität von Tumoren zu verstehen. Um zu erkunden, wie die Tumorzellen Nachbarzellen so manipulieren, dass sie für sie arbeiten. Oder um Krebsmedikamente zu entwickeln und zu testen. "Wenn uns das ein Anliegen ist, müssen wir Tierversuche in Kauf nehmen."

Andere widersprechen: "Seit 30 Jahren werden Krebserkrankungen mit einem gigantischen Aufwand beforscht. Die Krebsmaus ist auch schon millionenfach geheilt worden, doch beim Menschen funktioniert es nicht - was dabei herauskommt, ist marginal", sagt Corina Gericke, Vize-Vorsitzende des deutschen Vereins "Ärzte gegen Tierversuche".

Nicht nur dass die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht einfach so auf den Menschen übertragbar seien, "Tierversuche sind grausam und daher auch aus ethischen Gründen abzulehnen". Der Mensch habe nicht das Recht, Tiere als Messinstrumente zu missbrauchen.

Weiter entfernt könnten die Standpunkte kaum sein. Ein Kompromiss zwischen Befürwortern und Gegnern ist kaum zu finden. Das hat auch die Diskussion in Österreich um die Novelle des Tierversuchsgesetzes gezeigt. Die Neufassung wurde Dienstag im Ministerrat beschlossen und soll im Dezember ins Plenum des Nationalrats kommen. Mit dieser Novelle wird der Umgang mit jenen rund 190.000 Tieren neu geregelt, die in Österreich laut Tierversuchsstatistik jährlich experimentellen Zwecken dienen (die Taufliege Drosophila melanogaster wird nicht erfasst).

Den Organismus betrachten

Tierexperimentelle Forschung bringe Erkenntnisgewinn, sagen die Befürworter. Den Neurowissenschaftern dienen die Tiere, vor allem Mäuse, dazu, das Gehirn besser zu verstehen - etwa biologische Vorgänge von Depressionen aufzudecken. "Wir wissen bei psychiatrischen Erkrankungen derzeit wesentlich weniger über die neurobiologischen Grundlagen als in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Leber- oder Blutkrankheiten", sagt die Neurowissenschafterin Daniela Pollak. Organe wie das Gehirn seien so komplex, dass sie im Moment kaum außerhalb des Organismus studiert werden können. Wenn man sich zudem für das Verhalten interessiert, ist für die Forscherin der Med-Uni Wien "die Betrachtung eines gesamten Organismus fast unausweichlich". Für die Gegner hingegen ist es anmaßend zu meinen, man könne vom Verhalten des Tieres auf das Verhalten des Menschen schließen.

Die Mehrheit der im Tierversuch für sicher und wirksam befundenen potenziellen Medikamente kommen nicht durch die klinische Phase: aufgrund von gravierenden Nebenwirkungen oder mangelhafter Wirksamkeit, die sich im Menschenversuch herausstellen. Vor gut fünf Jahren sollen es 92 Prozent gewesen sein, verweisen Tierversuchsgegner auf eine Angabe der US-Gesundheitsbehörde FDA. Auch wenn Maus, Ratte und Co nicht die perfekten Modelle sind, so sind sie für die Befürworter "die besten, die wir derzeit haben". Mit ihnen seien diverse Impfstoffe, Antibiotika und Wirkstoffe für Aids-Therapien entdeckt worden. Zudem hätten sie der Medizintechnik, etwa bei Transplantationen, zu Fortschritten verholfen. Keiner macht den Tierversuch zum Spaß, betonen die mit Tieren arbeitenden Wissenschafter.

"Alles, was in der Zellkultur außerhalb des Organismus machbar ist, machen wir auch in der Zellkultur", sagt die Krebsforscherin Sibilia. Denn es gilt ein ethischer Grundsatz, der vor rund 50 Jahren formuliert und als Modus Vivendi weithin akzeptiert ist: Beim Versuch sind die Forscher - und die Kommissionen, die sich mit den Forschungsanträgen auf Tierversuche beschäftigen - mit der Novelle auch gesetzlich explizit angehalten, nach dem "3R-Prinzip" zu arbeiten: Replacement (Vermeidung), Refinement (Verfeinerung) und Reduction (Verringerung).

Nach Ersatz suchen

Am Ausbau von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen arbeitet Klaus Schröder. Bei toxikologischen Studien ließen sich die Langzeiteffekte einer Substanz, die über einen längeren Zeitraum verabreicht wird, nur am lebenden Organismus studieren. Doch dort, "wo es um den akuten Effekt geht, kann man mit In-vitro-Methoden arbeiten", sagt der Geschäftsführer der BioMed-zet Life Science GmbH.

Also mit Zell- bzw. Gewebekulturen - oder auch Computersimulationen. Die toxikologische Wirkung einer Substanz könne mithilfe von Hautzellen studiert werden, anderes mit "Schlachthofmaterial" wie etwa Augenirritationen mit Rinderaugen.

Erst jüngst berichteten Forscher des Wyss Institute der Harvard University, dass sie ein Lungenödem auf einem "Organ-Chip" modelliert haben: Sie nutzen ihren "Lunge-auf-dem-Chip", um die Toxizität eines Wirkstoffes zu testen und um neue Behandlungswege zu suchen, wie das Journal Science Translation Medicine berichtete. 2010 hatten sie ihre Nachahmung einer atmenden Lunge auf dem Mikrochip in Science vorgestellt. "Wo es Alternativen gibt, setzt sie auch die Industrie in der Produktentwicklung ein", sagt Schröder. Denn die Haltung von Versuchstieren ist teuer. Aber: Soll eine Entwicklung, die mit In-vivo-Methoden gefunden wurde, auch zur Anwendung beim Menschen kommen, sind zur Produktabsicherung per Gesetz vielfach noch Tierversuche vorgeschrieben.

Für Gericke geht es indes um Rückbesinnung: "Wir müssen dorthin kommen, Krankheiten ursächlich zu heilen und zu verhindern." Auch wenn das der Pharmaindustrie nicht schmecken sollte. "Ein Drittel der Krebserkrankungen sind durch zu viel Rauchen und ein weiteres Drittel durch unsere Ernährung - zu viel Fleisch, zu viel Fett - verursacht." Hier helfe Prävention.

Für eine besonnene Abwägung votiert Herwig Grimm, Professor für Ethik in der Mensch-Tier-Beziehung am Messerli-Institut: "Heute haben Tiere in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert als früher." Auf der anderen Seite gebe es das verfassungsrechtlich geschützte Gut der Forschungsfreiheit. Schon die Anerkennung beider Güter zeige, "dass die Gesellschaft hier sicherlich nicht mit einer weißen Weste herauskommen wird". Doch es gehe nicht nur um die Frage, wie den Tieren möglichst wenig Leid zuzufügen sei - man müsse auch hinterfragen: "Auf welches Wissen kann die Gesellschaft verzichten?" (Lena Yadlapalli, DER STANDARD, 14.11.2012)