Lothar Müller, "Weiße Magie. Die Epoche des Papiers". Hanser 2012, 384 Seiten, 24,90 Euro

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Liebesbrief und Zahlungsmittel, Verpackungsmaterial und Kanzleibogen, Tageszeitung und Scherenschnitt: Papier hatte im Lauf der Jahrtausende viele Gesichter. Die Weiße Magie, so nennt es Süddeutsche-Journalist und Literaturkritiker Lothar Müller in seinem kultur- und wissenschaftshistorischen Werk Papier - der Stoff, mit und auf dem Kulturgeschichte geschrieben wird.

Die Geschichte des Papiers beginnt, wie viele Errungenschaften der Zivilisation, im alten China. Über Arabien und Ägypten erreichte das Papier im 13. Jahrhundert im großen Stil Europa, wo es wurde, was es heute ist: Speichermaterial, Lesestoff, Vermittlungsobjekt, Kulturgut. Müller begleitet den Leser auf einer historischen und philosophischen Reise durch die Epochen, von altertümlichen Pergamenten, die aus Holzabfällen produziert wurden, bis hin zum, wie er es nennt, elektronischen Papier.

Allein Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdrucks, hätte keine Freude mit Müllers Buch. Überbewertet sei Gutenbergs Rolle in der Geschichte des Papiers, erklärt der Journalist: Nicht das gedruckte Buch habe das Papier berühmt gemacht, das sei es vielmehr schon vorher gewesen. Die vielzitierte Gutenberg-Ära? Eine ungerechtfertigte Überhöhung der Druckerpresse und des gedruckten Buches zum " perspektivischen Fixpunkt der Medientheorie der Neuzeit".

Diese Verzerrung der Realität, ist Müller überzeugt, sei einer der Gründe für die allgegenwärtige und vielbeschworene Opposition von Buchdruck und Internet, eine Opposition, die ihren intellektuellen Ausgangs- und Angelpunkt 1962 in Marshall McLuhans Werk Die Gutenberg-Galaxis hat.

Die zentrale These Müllers lautet wie folgt: Das Gutenberg-Zeitalter ist vorbei, aber das Papier bleibt. "Wir schreiben und lesen auf analogem Papier, und wir schreiben und lesen auf elektronischem Papier."

Diesem elektronischen Papier fehlt aber noch sein Eigenleben, seine Identität. Es betreibt erfolgreich Mimikry mit seinem analogen Vorgänger, indem es dessen Verhaltensweisen imitiert und kopiert. Der elektronische Papierkorb auf dem Computerbildschirm gleicht einem echten Papierkorb; das Scherensymbol einer echten Schere; wenn sich der Benutzer entscheidet, virtuell etwas wegzuwerfen, dann wird dieser Akt von einem Raschelgeräusch begleitet.

Wir leben, ob analog oder digital, immer noch in der Epoche des Papiers, konstatiert Müller. Und manchmal, da raschelt es sogar noch. (DER STANDARD, 14.11.2012)