Dieses Buch hat natürlich "Stellen" - wenn ein nicht unwichtiger Bankier der Zweiten Republik seine Memoiren schreibt, dann gibt es eben ein paar "heiße Zitate". Heinrich Treichl, zwischen 1970 und 1981 Generaldirektor der CA - Österreichs monetäre Visitenkarte - hat natürlich einiges über Personen der jüngeren Zeitgeschichte zu erzählen und zu sagen, Boshaftes bis Vernichtendes. Bruno Kreisky und Hannes Androsch haben jeder ein eigenes - abgestuft kritisches - Kapitel bekommen. Sie kommen sogar in einer Anekdote gemeinsam vor. Androsch sagte einmal zu Treichl, er verstehe nicht, warum die Zeitungen über Kreiskys Maßschuhe schrieben. Treichl wies darauf hin, dass es sich dabei ohnehin um "harte Böcke" handle, sein eigener Schuster mache viel bessere. Worauf Androsch den Stift zückte und fragte: "Und wie heißt Ihr Schuster ?" Weniger amüsant Treichls Urteil, Androsch habe durch die Begünstigung der Z (später Bank Austria) "dem österreichischen Bankwesen entscheidend geschadet". Zum Verkauf der CA an die Bank Austria hält Treichl fest, dass Bank-Austria-Generaldirektor Gerhard Randa zwar im Interesse seines Instituts gehandelt habe, nicht aber in dem des Landes. Wolfgang Schüssel wiederum sei nicht stark genug gewesen, um wegen der Kaperung der bürgerlichen CA durch die rote BA die Koalition platzen zu lassen.

Dieser (zweite) Teil des Buches ist der Bericht über den (weitgehend vergeblichen) Versuch eines "Liberalen im klassischen, angelsächsischen Sinn" (Treichl über sich) , die sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik zu konterkarieren ("Ich halte den Sozialismus für eine Bedrohung der Freiheit"). Aber Treichl veröffentlicht den Memoirenband im Alter von 90 Jahren, und das bedeutet, dass er "vier Österreich" erlebt hat: die Monarchie, die erste Republik, die Nazi-Zeit und die Zweite Republik. Wenn er darüber spricht, dann taucht Zweigs "Welt von gestern" wieder auf: Im Hause seiner Eltern waren in den Zwanzigerjahren zu Gast: die Nationalökonomen Joseph Alois Schumpeter, Ludwig von Mises. der einflußreiche Times-Korrespondent Wickham Steed, berühmte Opernsänger , Georg Taussig, Gouverneur der Bodencreditanstalt, der einstigen Bank des Kaisers, Familien der "haute juiverie", aber auch der klerikal-autoritäre Bundeskanzler Ignaz Seipel, deutsche Sozialdemokraten, die Industriellen Schoeller und Reininghaus, Moriz Benedikt, der Herausgeber der Neuen Freien Presse, der Nervenarzt Julius von Wagner-Jauregg.

Die Treichls gehörten zur "zweiten Gesellschaft". Nicht zur Hocharistokratie, zur "Hofgesellschaft", sondern Mitglieder eines Verdienstadels, einer Meritokratie, deren Nobilitierung meist ins 19. Jahrhundert datierte und nicht wenige geadelte Juden mit einschloss. Treichls Mutter Dorothea war die Enkelin des Erbauers der Votivkirche (und des Palais Ferstel in der Wiener Innenstadt) , sein Vater brachte es vom Abkommen einer bäuerlichen Familie in Salzburg zum Handelskammerfunktionär und später zum Privatbankier (der sein Vermögen in der Zeit des Bankenkrachs vergeblich zur Rettung des Instituts einsetzte). Der junge Treichl lebte in einer privilegierten, wie selbstverständlich europaweit verzweigten Welt - die mit dem Anschluss Österreichs jäh endete.

In der neuen Welt mussten dann falsche Atteste herhalten, um zu "beweisen", dass der jüdische Vater seiner Großmutter Thorsch gar nicht ihr Vater war. Die alte Dame wurde 1943 im Wiener Naturhistorischen Museum schädelvermessen, mit dem Ergebnis, dass sowohl sie wie auch ihre Enkel, darunter Heinrich, per Führerbescheid für voll "deutschblütig" erklärt wurden.

Es ist fast ein Familienroman, der immer wieder auch ins Tragische umkippt: Treichls Bruder Wolfgang entschied sich, in englischer Uniform gegen die Nazis zu kämpfen. Er kam bei einem Fallschirmabsprung in Oberitalien um. Heinrich wiederum desertierte 1944 in Frankreich zu den Amerikanern (nach einer Affäre mit einer Dame der Resistance).

Dieser Teil des Buches ist eine österreichische Geschichte, und man liest sie mit einer Mischung aus Staunen, Schaudern - und Vergnügen, denn Heinrich Treichl schreibt vorzüglich. Die Jahre haben ihm da nichts anhaben können. Und sie haben ihn auch nicht milder gemacht gegenüber den versäumten Chancen in der österreichischen Wirtschaftspolitik. Heute würde man Treichl als einen Neoliberalen bezeichnen, mit einem österreichtypischen Hang zur Monarchienostalgie (Androsch etwa habe damals gezögert, mit seinen Verwicklungen "die sichere Erhebung in den Ritterstand aufs Spiel zu setzen"). Treichls Pech war, dass er Chef einer Bank in mehrheitlichem Staatsbesitz mit einem problematischen Industriekonzern wurde, als Bruno Kreisky dem Land einen interventionistischen Staatssozialismus verordnete. Treichl ist der festen Meinung, dass eine Privatisierung der CA (und der Länderbank) ihre Stellung gesichert hätten; dass eine Stärkung des Privatkapitals verhindert hätte, was heute zu konstatieren ist: "Wir sind weder in der Industrie noch in der Finanz in die Spitzenliga vorgedrungen, obwohl wir mit unserem großen Schatz an vielseitigen Begabungen dazu imstande gewesen wären." Aber auch die Bürgerlichen haben ihren Anteil an der Verantwortung: "Das Festhalten am vermeintlich schützenden Eigentümer Staat war auch der Ausdruck einer verbreiteten Zaghaftigkeit, einer Agoraphobie, die wir auch in der Privatindustrie fanden: lieber bescheiden in einem geschützten Heimatmarkt als im Wettbewerb auf dem freien Weltmarkt."

Ein "Liberaler im klassischen angelsächsischen Sinn" ist eben sehr einsam in Österreich, auch unter den heutigen Machtverhältnissen (wo nicht so sehr privatisiert als berlusconisiert wird). Treichls Analyse der Versäumnisse und Defizite der österreichischen Wirtschaftstruktur sind es wert, genau studiert zu werden. Dazugeliefert wird aber noch eine altösterreichische Familiengeschichte von großem Reiz. (Hans Rauscher/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6.7.2003)