Dieser Schuss, den Ägyptens Präsident Mohammed Morsi auf die ägyptische Justiz gefeuert hat, ist nach hinten losgegangen. Er ist ein enormer Schlag für die Glaubwürdigkeit der Muslimbruderschaft, die auf dem Weg war, sich trotz ihrer ideologisch belasteten Vergangenheit als eine pragmatische, wertkonservative, aber einen nationalen Konsens suchende Kraft zu etablieren. Das ist jetzt erst einmal vorbei. Will Morsi seine beschädigte Glaubwürdigkeit auch nur annähernd wieder reparieren, so muss er die Verfassungserklärung, mit der er sich am Donnerstag über die Justiz stellte, zurücknehmen.

Morsi wollte jene Teile der Justiz treffen, die er für vom alten Regime gelenkt hält und von denen er offenbar erwartete, sie würden die nächsten Transitionsschritte auf dem Weg zu den Parlamentswahlen zu verhindern versuchen. Für seine Verfassungserklärung im August, mit der er die Spitzen der Armee - die von den oben erwähnten Teilen der Justiz gestützt wurden - in den Ruhestand schickte, wurde er noch vom gesamten revolutionären Ägypten gefeiert. Er mag wirklich gedacht haben, die Ägypter und Ägypterinnen würden auch sein jetziges Vorgehen im revolutionären Kontext sehen und akzeptieren. Aber das zeigt nur sein mangelndes Demokratieverständnis. Die Unabhängigkeit der Justiz ist unteilbar. Und die ägyptische Justiz wird von den Menschen auch keineswegs nur mit dem Ancien Régime identifiziert.

Morsi hat auch übersehen, dass die Verfassung, der er den Weg freischießen wollte - indem er die Justiz an der Auflösung der Verfassungsversammlung hindert -, von den nicht-religiösen Sektoren der ägyptischen Gesellschaft so stark abgelehnt wird. Auch wenn diese Verfassung Ägypten nicht, wie es manche Kritiker sehen wollen, in einen islamistischen Staat verwandelt, so wäre es dennoch gefährlich, sie gegen den Willen von halb Ägypten durchzudrücken.

Das Dilemma ist, dass die Neuwahlen an der Verabschiedung der neuen Verfassung hängen. So lange bleibt Ägypten ohne Abgeordnetenhaus - das erste wurde ja, von der Justiz, aufgelöst. Auch das ist nicht gut für eine junge Demokratie. Wenn kurzfristig kein breiterer Konsens über die Verfassung herzustellen ist, sollte man sich überlegen, ob die Wahlen nicht doch vorzuziehen wären: aber nicht per Dekret, das sich Morsi mit seinen Beratern ausheckt, sondern nach Gesprächen mit allen politischen Kräften. (DER STANDARD, 26.11.2012)