Bild nicht mehr verfügbar.

Die Zahl der manifest armen Menschen in Österreich steigt: Die Statistik Austria verweist auf internationale Messstandards und fordert von der Wirtschaftskammer die dort monierte Redlichkeit.

Foto: APA

Bild nicht mehr verfügbar.

Konrad Pesendorfer sieht einen deutlichen Anstieg an Armut: "Während im Jahr 2005 noch 372.000 Menschen betroffen waren, stieg derselbe Indikator auf 492.000 im Jahr 2008 und erreichte 2010 den bisherigen Höhepunkt mit 511.000 Menschen."

Foto: STATISTIK AUSTRIA / APA-Fotoservice/ Preiss

In seinem Kommentar "Statistik als Armutsrisiko behauptet der stellvertretende Leiter der Abteilung für Sozialpolitik und Gesundheit in der Wirtschaftskammer, Rolf Gleißner, die Statistik und nicht die Wirtschaftskrise trüge die Schuld an steigenden Armutszahlen. Statistik Austria wird vorgeworfen, Definitionen "gelockert" zu haben, sodass Armut eine steigende Tendenz zeige. Gleißners Argumentation, ausgewiesen als "Plädoyer für mehr Redlichkeit in der sozialpolitischen Debatte", ist inhaltlich fehlerhaft und unterstellt eine Beliebigkeit amtlicher Statistik, die entschieden zurückgewiesen werden muss. Aufklärung ist daher in beiden Punkten erforderlich.

Mit der kontinuierlichen Messung von Armut und Lebensbedingungen erfüllt Statistik Austria einen gesetzlichen Auftrag: Eine gemeinsame Verordnung des Europäischen Rats und des Europäischen Parlaments verpflichtet seit dem Jahr 2004 alle Mitgliedsstaaten zur jährlichen Durchführung einer Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC), bei der in Österreich Jahr für Jahr etwa 6000 Haushalte erfasst werden. Daher sind auch in der Abbildung von Armut und Armutsgefährdung gemeinsame Definitionen anzuwenden, die einen internationalen Vergleich ermöglichen.

Der von Gleißner zitierte Indikator für Armutsgefährdung (man hat ein Einkommen, das weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt) galt lange Zeit als die wichtigste Kennzahl für Armut in Europa. Dieser Indikator hat in Österreich weder in Zeiten des wirtschaftlichen Booms noch in Zeiten der Krise statistisch signifikante Veränderungen gezeigt. Mittlerweile steht im Rahmen der Europa-2020-Ziele eine breitere Definition für die sogenannte "Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung" im Mittelpunkt. Dieser EU-weit verbindlich definierte Indikator zeigte zuletzt sogar Verbesserungen, während nationale Indikatoren wachsende Polarisierungen aufdecken.

Um dem komplexen Thema "Armut" besser gerecht zu werden, wurde auf nationaler Ebene - lange vor den heutigen EU-Indikatoren - durch einen Beirat aus Fachleuten (an dem übrigens auch die Wirtschaftskammer beteiligt war) eine Definition für manifeste Armut entwickelt. Ziel war ein Konsens über den absolut notwendigen Mindestlebensstandard in Österreich, der im Unterschied zu den EU-Indikatoren auch Lebenshaltungskosten einbezieht.

Dieser Indikator zeigt langfristig einen deutlichen Anstieg: Während im Jahr 2005 noch 372.000 Menschen betroffen waren, stieg derselbe Indikator auf 492.000 im Jahr 2008 und erreichte 2010 den bisherigen Höhepunkt mit 511.000 Menschen.

Die von Gleißner zum Vergleich angeführte Zahl von 355.000 bezieht sich nicht auf manifeste Armut, sondern auf einen neuen EU-Indikator für erhebliche materielle Deprivation (Entbehrung) für das Jahr 2010. Dieser stieg ebenfalls langfristig von 3,0 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2005 auf 4,3 Prozent im Jahr 2010.

Statistik Austria hat vergangene Woche im Sozialbericht aktuelle Befunde veröffentlicht, die eine zeitliche Verfestigung von Armutslagen anzeigen: In den letzten sechs Jahren hat sich etwa die Zahl der Menschen verdoppelt, die in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren finanziell depriviert waren (2010 fast elf Prozent der Bevölkerung). Das ist stimmig mit der Entwicklung der Zahl der Personen in der sogenannten offenen Sozialhilfe der Bundesländer - diese hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt und lag im Jahr 2010 bei fast 180.000 Personen.

Diese Fakten fordern differenziertes Urteilsvermögen anstatt ideologischer Vorurteile. Polemische Angriffe auf die Objektivität von Zahlen der amtlichen Statistik sind dabei wenig hilfreich und tragen gerade nicht zu der nicht nur von Gleißner angestrebten Redlichkeit in der sozialpolitischen Debatte bei.

Armut ist in reichen Staaten vermeidbar. Aber nur, wenn man auch die Fakten genau betrachtet, können Entscheidungen richtig getroffen werden. (Konrad Pesendorfer, DER STANDARD, 27.11.2012)