Wolfgang Kirnbauer: "Die Sachverständigen kommen fast zu hundert Prozent aus der Immobilienwirtschaft, ihr typischer Kunde ist der Hauseigentümer. Da darf es einen nicht wundern, wenn die Gutachter ein bisschen zu vermieternah aufgestellt sind."

Foto: Putschögl

Ein ganz normaler Vormittag am Bezirksgericht Wien-Meidling: Wolfgang Kirnbauer hat soeben einer Mieterin dazu verholfen, dass sie weniger Miete zahlen muss. Das Verfahren dauerte eine Stunde, der Vermieter zeigte sich - anders als vor der Schlichtungsstelle - einsichtig. Im Anschluss daran bittet derStandard.at den Obmann des Wiener Mieterschutzverbands zum Interview. Kirnbauer erzählt, warum er das Richtwertmietensystem grundsätzlich für gut hält, warum es aber trotzdem stark verbesserungswürdig ist. Außerdem sagt er, warum unabhängige Sachverständige seiner Meinung nach nicht ganz so unabhängig sind, und warum es in Wien nur "durchschnittliche" und "überdurchschnittliche" Lagen gibt, aber keine "unterdurchschnittlichen" - was ja an sich logisch sein müsste. Die Fragen stellte Martin Putschögl.

derStandard.at: Herr Kirnbauer, Sie haben soeben ein Gerichtsverfahren für eine Mieterin gewonnen. Diese muss für ihre 84-m²-Wohnung weiterhin nur 136 Euro zahlen und nicht 200, wie es ihr Vermieter wollte. Wenn Sie nun an die vielen krass überhöhten Mieten denken, mit denen Sie es wohl immer wieder zu tun bekommen - haben Sie dann gar kein schlechtes Gewissen diesen Mietern gegenüber?

Kirnbauer: Nein, überhaupt nicht. Ich würde mir wünschen, dass alle diese anderen Mieter - das sind 90 oder sogar 95 Prozent der Fälle, insofern war das ein absoluter "Ausreißer" - deutlich weniger zahlen müssen. Denn dann kann man in Kauf nehmen, dass die niedrigen Mieten ein wenig steigen. Aber so ein "Gegengeschäft" - die hohen Mieten runter, die niedrigen etwas hinauf - wurde von den Hauseigentümern bisher noch nie angeboten. Im Übrigen hat der Gesetzgeber ohnehin dafür gesorgt, dass niedrige Mieten auch so relativ einfach angehoben werden können, wenn man etwa an eine "Paragraph-18-Sanierung" denkt, oder an Erhaltungs- und Verbesserungsbeiträge, die man Mietern ohne viel Aufwand vorschreiben kann.

derStandard.at: Der Vorschlag von Maria Vassilakou für eine Obergrenze von sieben Euro war dann für Sie wohl höchst begrüßenswert?

Kirnbauer: Ich begrüße im Moment jede mietrechtliche Initiative. Und ich verstehe auch nicht, warum Frau Vassilakou so "gebasht" wurde dafür, denn sie hat nur das ausgesprochen, was sich viele denken. Zuvor war das Mietrecht in der politischen Diskussion kaum vorhanden, die Nationalratsparteien haben das bisher überhaupt nicht öffentlichkeitswirksam thematisiert. Die ÖVP hat in den letzten 20 Jahren ohnehin nicht die Mieterseite vertreten. Ganz schwierig war es, als Maria Fekter Justizsprecherin war, da ging überhaupt nichts weiter. Es hieß immer nur "Njet, Njet, Njet". Jetzt reden die Verhandler wenigstens wieder miteinander. Trotzdem geht nichts weiter.

derStandard.at: Hoffen Sie beim Mietrecht auf Rot-Grün im Bund?

Kirnbauer: Die Grünen haben zumindest erkannt, dass im Moment weite Teile der Bevölkerung mit der Miete nicht mehr zurechtkommen. Ich muss dazusagen, dass wir uns bis vor etwa zwei Jahren unklar darüber waren, welchen Standpunkt die Grünen in dieser Causa vertreten. Abgesehen von David Ellensohn kam von der Partei dazu recht wenig. Vor eineinhalb Jahren wurden wir dann von Justizsprecher Albert Steinhauser zu einem Gespräch eingeladen. Er fragte uns, was aus unserer Sicht die größten Probleme sind. Darüber waren wir sehr überrascht und erfreut, denn wir sind da auf großes Verständnis gestoßen. Keine andere Partei ist bis jetzt an uns herangetreten.

derStandard.at: Was sind die größten Probleme aus Ihrer Sicht?

Kirnbauer: Problem Nummer eins ist die Durchführung von Mietüberprüfungsverfahren. Ich muss vorausschicken, dass ich das Richtwertmietensystem, das wir seit 1994 haben, an sich für gut halte, weil es im Gegensatz zum Kategoriemietensystem sehr viele individuelle Eigenschaften einer Wohnung darstellt. In den letzten 20 Jahren ist aber eine gewisse Eigendynamik entstanden; man findet in den Gutachten fast nur noch Zuschläge. Ich warte schon auf den Tag, an dem mir ein Zuschlag für ein durchsichtiges Fenster unterkommt.

derStandard.at: Welche Rolle spielen da die Gutachter Ihrer Meinung nach?

Kirnbauer: Die Sachverständigen kommen fast zu hundert Prozent aus der Immobilienwirtschaft, ihr typischer Kunde ist der Hauseigentümer. Da darf es einen nicht wundern, wenn die Gutachter ein bisschen zu vermieternah aufgestellt sind. Wenn die Schlichtungsstelle einen Mietzins festlegt - und die sind in den meisten Fällen jetzt auch nicht so mieterfreundlich, in dem Sinn, dass die zulässige Miete rasend niedrig geschätzt wird -, und derselbe Akt kommt in die höhere Instanz, dann können Sie schon mal davon ausgehen, dass ein Sachverständiger zehn oder 15 Prozent draufschlägt. Das ist wie das Amen im Gebet. Es gibt auch Sachverständige, die immer irgendwie auf den Betrag kommen, der genau zwischen dem Vorschlag der Schlichtungsstelle und dem angefochtenen, weil zu hohen Mietzins liegt.

Das Zuschlagsystem ist also nicht griffig genug. Man hatte dieses Problem damals bei der Einführung der Richtwertmieten sogar erkannt, ich glaube im ursprünglichen Entwurf war eine Deckelung der Zuschläge vorgesehen. Aus irgendeinem Grund kam die dann aber nicht.

derStandard.at: Die Immobilienwirtschaft hält den Wiener Richtwert (aktuell 5,16 Euro/m²) einfach für viel zu niedrig, im Vergleich zu anderen Bundesländern. Was denken Sie?

Kirnbauer: Nein, der Wiener Richtwert ist keinesfalls zu niedrig. Ganz im Gegenteil ist beispielsweise jener in der Steiermark (7,11 Euro) absurd hoch, das ist einfach nicht zu rechtfertigen. Unsere steirischen Kollegen leiden massiv unter diesem Richtwert.

Und damit sind wir beim nächsten Problem. In Wien und zehn anderen Städten gibt es die vorgelagerte Schlichtungsstelle, dieses System funktioniert recht gut und ist vor allem sehr niederschwellig. "Schlichtungsstelle" klingt nicht so dramatisch wie "Gericht", die Leute haben deshalb keinerlei Scheu, dorthin zu gehen. Man glaubt gar nicht, wie wichtig es für die Leute ist, dass sich auch mal ein Dritter, noch dazu eine unabhängige Behörde, ihr Anliegen anhört. Das wirkt Wunder. Und sehr häufig werden bei den Schlichtungsstellen für beide Seiten tragbare Kompromisse erzielt; ich würde sagen, so in 30 bis 40 Prozent der Streitfälle. Leider gibt es eben nur in bestimmten Städten eine Schlichtungsstelle, anderswo ist ein Mieter gezwungen, sofort das Gericht einzuschalten. Das schreckt ab, denn wenn man so ein Verfahren verliert, kann das gleich einmal 2.000 bis 3.000 Euro kosten.

derStandard.at: Hilft da eine Rechtsschutzversicherung?

Kirnbauer: Ja, aber die muss man schon vor Abschluss des Mietvertrags abgeschlossen haben, sonst übernimmt sie die Kosten nicht. Die unter Schwarz-Blau im Jahr 2002 eingeführte Kostenersatzpflicht gehört sofort wieder abgeschafft.

Eine große Errungenschaft war die Einführung des Außerstreitverfahrens für die Kautions-Streitigkeiten vor wenigen Jahren. Davor haben nämlich drei Viertel aller Vermieter die Kaution prinzipiell nicht zurückgezahlt, und kaum ein Mieter hat sich getraut, vor Gericht dagegen zu klagen, weil dort hohe Kosten drohten. Damit war das ein komfortables Zusatzeinkommen für Vermieter. Mit dem Außerstreitverfahren war das Problem auf einen Schlag gelöst.

derStandard.at: Für manche Beobachter wäre jetzt allerdings wieder mal eine vermieter-freundliche Gesetzesänderung an der Reihe, weil die letzten beiden größeren Entscheidungen - eben die Kautionen sowie die Kürzung der Maklerprovisionen - eher mieterfreundlich ausgefallen sind ...

Kirnbauer: Durch die Verweisung der Kautionen ins Außerstreitverfahren wurden ja auch die Gerichte entlastet. Alles, was vor einer Schlichtungsstelle gelöst wird, erspart sich der Richter im nächsten Prozess. Das war also kein inhaltliches Entgegenkommen der Hauseigentümer-Lobby, sondern ein pragmatischer Gedanke, der aber zu einer Verbesserung der Situation zumindest in Wien geführt hat. Und die Kürzung der Provisionen war sowieso längst überfällig, weil die Einstandskosten bei der Anmietung einer Wohnung heute schon viel zu hoch sind. Die meisten Mietverträge sind befristet, da zahlt man also schon einmal alle paar Jahre für's Übersiedeln. Dann muss man ein, zwei Monate doppelt Miete zahlen, weil sich die Zeiträume überschneiden, und dann auch noch die Gebühren fürs Finanzamt und die Kaution - das bewältigt ja ein Normalsterblicher gar nicht mehr.

derStandard.at: In manchen Fällen müssen Sie als Mieterschützer aber doch froh sein, dass Mietverträge befristet werden, weil sich so eine zu hohe Miete leichter zurückholen lässt, oder nicht?

Kirnbauer: Ja, manchmal. Normalerweise muss die Mietvertragsvereinbarung innerhalb von drei Jahren beeinsprucht werden. Das ist eine ganz knallharte Frist, da gibt's kein Pardon. Dass sie bei Befristungen bis zu einem halben Jahr nach Mietbeendigung beeinsprucht werden kann, davon profitieren viele Mieter rückwirkend. Erst unlängst hatte ich eine Mieterin, die drei- oder viermal ihren Mietvertrag verlängern wollte und jedes Mal zittern musste, die Verlängerung auch zu bekommen. Nach insgesamt zehn Jahren hat der Vermieter dann nicht mehr verlängert. Sie kam zu uns, wir brachten das Ganze zur Schlichtungsstelle, und die hat jetzt gleich mal eine Überschreitung von 9.000 Euro errechnet. Der Fall ist aber noch gerichtsanhängig.

derStandard.at: Justizministerin Beatrix Karl hat jüngst via "Kurier" signalisiert, dass sie "längerfristig" an eine "Entrümpelung" des Mietrechts denkt. Wie sieht diesbezüglich ihr "Wunsch ans Christkind" aus?

Kirnbauer: Wenn man jetzt am Gesetz nichts groß ändern will, dann sollte man die Praxis wenigstens ehrlicher machen. Im Gesetz steht nämlich drinnen, dass die Lage zu berücksichtigen ist. Ein typisches Gründerzeitviertel gilt da als höchstens durchschnittliche Lage. Sie können mir aber glauben: Seit 1994 ist mir in den bestimmt 2.000 bis 3.000 Verfahren noch kein einziges Gutachten untergekommen, in dem von einer "unterdurchschnittlichen Lage" die Rede war. Die gibt's nicht in Wien, es gibt nur "durchschnittliche" oder "überdurchschnittliche" Lagen. Das widerspricht aber schon dem gesunden Menschenverstand, das ist einfach verrückt.

Und eines zeigt mir meine Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte noch: Es gab mehrere Wellen der Liberalisierung der Mietpreisbindung. Die Hauseigentümer argumentierten immer, dass alles billiger werde, sobald die Mieten dereguliert werden, weil dann doch "eh der Markt greift". Das stimmt aber nicht, es ist bisher immer nur alles teurer geworden. (Martin Putschögl, derStandard.at, 5.12.2012)