Vor vier Jahren hieß es, die neue Regierung unter Präsident Obama strebe dieselbe Dynamik an, die einst in Abraham Lincolns Kabinett herrschte. Damals schlossen sich ehemalige Konkurrenten zusammen, um dem Land durch den Bürgerkrieg zu helfen. Nach der jüngsten Präsidentschaftswahl halten viele einen Vergleich mit der Innenpolitik von Präsident Roosevelt von den späten Jahren der Großen Depression bis zum Zweiten Weltkrieg für angebracht.

Die USA stehen heute vor anderen Herausforderungen als damals. Es bedarf aber einer ähnlichen Bereitschaft zur Zusammenarbeit - und zwar nicht nur zwischen den politischen Parteien -, um diese Herausforderungen zu meistern.

Die Bereitschaft zum Kompromiss und ein Geist der Versöhnung würden Wunder für die Wirtschaft bewirken, wenn Regierung und Wirtschaft gemeinsam beschließen, folgende dringlichen Aufgaben in Angriff zu nehmen:

Q Ausschaltung des Risikos einer sogenannten "Double-Dip-Rezession" und Stimulierung der Konjunktur. Die zum 1. Jänner auslaufenden Steuersenkungen und die am selben Tag wirksam werdenden automatischen Haushaltskürzungen gefährden die noch schwache Erholung. Jede politische Vereinbarung zur Bewältigung der sogenannten "fiskalpolitischen Klippe" erfordert Flexibilität und gemeinsame Opfer, die einige Mitglieder beider Parteien aber anscheinend nicht zulassen wollen. US-Nichtfinanzunternehmen haben mehr als eine Billion US-Dollar an liquiden Mitteln in ihren Bilanzen stehen. Wenn sie Sicherheit in Bezug auf die Steuersätze erhalten, werden die Unternehmen ihre (derzeit sehr niedrigen) Investitionsausgaben erhöhen und so zu einer Aufwärtsspirale mit neuen Arbeitsplätzen und Wachstum beitragen.

Q Wiederherstellung des Vertrauens in die öffentliche Finanzlage: In den Vereinigten Staaten sind die Zinssätze derzeit niedrig, und die Inflation ist moderat. Das öffentliche Haushaltsdefizit und eine wachsende Schuldenlast werden aber irgendwann zu einem drastischen Anstieg der Zinssätze und der Inflation führen. Eine breit angelegte fiskalpolitische Übereinkunft sollte Ausgabenkürzungen, Reformen in der Sozial- und Krankenversicherung und Einnahmesteigerungen zum Inhalt haben.

Ich glaube, dass Steuererhöhungen insbesondere für die wohlhabendsten US-Bürger angebracht sein könnten - aber nur, wenn sie mit einer ernsthaften Senkung von ermessensabhängigen Ausgaben und Kürzungen bei den Sozialprogrammen verbunden werden. Eine Reihe von Vorstandschefs und Unternehmen teilen diese Auffassung und unterstützen die Forderung nach einer umfassenden und ausgewogenen Lösung des Schuldenproblems durch höhere Steuereinnahmen und Ausgabenkürzungen.

Q Beibehaltung niedriger Grenzsteuersätze: Obwohl sich Demokraten und Republikaner über die Komplexität des US-Steuerrechts beklagen, gibt es praktisch keine ernsthaften Reformen. Eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in der Einkommensteuer durch Beseitigung von Schlupflöchern wird zu erheblichen Mehreinnahmen führen und gleichzeitig Erhöhungen der Grenzsteuersätze auf ein Mindestmaß beschränken. Denn solche Erhöhungen könnten sich nachteilig auf die Bereitschaft zur Risikoübernahme und das Wachstum auswirken.

Q Handeln, als ob wir uns in einem Wettkampf behaupten müssten (denn es ist tatsächlich so): Zum ersten Mal seit Generationen ist klar geworden, dass in den USA reichliche Energieressourcen in Reichweite sind und das Land über die Technologie verfügt, um diese Ressourcen auf verantwortungsvolle Weise zu erschließen. Die Regierung muss mit dem privaten Sektor zusammenarbeiten, um dafür effektive Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehört auch, im Zuge der wirtschaftlichen Erholung den Abschluss bilateraler und regionaler Abkommen voranzutreiben, die den internationalen Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr erleichtern. Amerika besitzt mehr Wettbewerbsstärken als die meisten anderen Länder: u. a. eine Kultur, die Innovation und Unternehmergeist fördert, und günstige demografische Voraussetzungen.

Viele Unternehmer in den USA vertreten unterschiedliche politische Auffassungen. Aber ich weiß auch, dass sie alle Fortschritte sehen und ihren Beitrag dazu leisten wollen. Wir alle sind bereit, die Ärmel hochzukrempeln und mit der Regierung Obama und dem Kongress zusammenzuarbeiten, um das dauerhafte Versprechen Amerikas zu erfüllen. (Lloyd C. Blankfein, DER STANDARD, 6.12.2012)