"Letztlich bleibt vom Heute, was vom Gestern blieb und vom Morgen bleiben wird: das unstillbare, grenzenlose Verlangen, allzeit derselbe und gleichzeitig ein anderer zu sein": Jaroslav Rudis.

Foto: Luchterhand-Verlag

Prag sei ein "riesiges, schmuddeliges und muffig riechendes Museum" geworden, sagt sich eine Figur; die ganze Stadt sei "von gestern". Sie stinke dermaßen, stellt ein anderer fest, "dass er den Geruch schon wieder schön findet." Und ein Amerikaner erinnert sich an die Zeit, als er hierher gezogen war: "In der ersten Hälfte der neunziger Jahre dachten alle, die Revolution würde nie zu Ende gehen, sie war eine riesige Rockparty. An den verkaterten Morgen danach dachte damals keiner." Das Ende des Prager Sommers nach einem anderen Prager Frühling.

Jaroslav Rudis, der in Tschechien weltberühmte Schriftsteller und Drehbuchautor (die Verfilmung seines Comics Alois Nebel lief letztes Jahr beim Festival in Cannes), erzählt in Die Stille in Prag eben vom verkaterten Morgen im Ambiente seiner Stadt, die er in eindringlichen Facetten hinter den Fassaden nahebringt. Während Bilder von im Irak verwundeten US-Soldaten im TV zu sehen sind, folgt er den Wegen von fünf ebenso stark wie differenziert gezeichneten Charakteren durch Prag und durch eine Lebenskrise. Gelegentlich kreuzen sich, deutlich oder kaum merklich, ihre Bahnen. Am Ende treffen alle beim Showdown im Akropolis-Musikclub aufeinander, beim Auftritt der Band Kill the Barbie, und schließlich sitzen zwei im Park auf der Letná-Höhe über der Stadt: " Die Sterne über Prag sind verschwunden. Der Sommer ist vorbei."

Mit seinem flotten Stil - meist präzise anschaulich, mitunter doch etwas simpel - und mit schnellen Schnitten zieht Rudis in den Bann eines Lebensgefühls, das zwischen Melancholie und Aufbegehren schwankt, sowie von fünf unterschiedlichen Konzeptionen der Existenz.

Vanda, die Punk-Sängerin von Kill the Barbie will zu ihrem achtzehnten Geburtstag das Koksen bleiben lassen; Petr, mit dem sie soeben eine Nacht verbracht hat, meint die Leere nach abgebrochenem Studium und abgebrochener Liebe als Straßenbahner umfahren zu können; der Anwalt Wayne gerät aus seinen Gleisen, da er im Verwundeten auf den Bildschirmen den Bruder zu erkennen glaubt; seine "Kleine", Hana, will sich von ihm trennen, sie erlebte in Lissabon mit einem anderen "la petite mort", einen intensiven Orgasmus, und hat nun die Enge ihrer Welt vor Augen; der entlassene Philharmoniker Vladimir, der über den Tod seiner Frau nicht hinwegkommt, sucht mit allen Mitteln den allseitigen Lärm zu dämpfen. Die vollkommene Stille, weiß er, gibt es nur auf dem tiefsten Grund des Ozeans. Sie gewinnt für ihn und den Roman existenzielle Bedeutung: jene Stille, "aus der wir kommen, nach der wir suchen und in die wir zurückkehren werden."

Alle scheinen sich im Kreis zu bewegen, Petr in seiner Tram Nr. 22 von Endstation zu Endstation, alle suchen sie Auswege aus ihren Beziehungsschienen, alle drehen sie sich um verschiedene Arten von Musik - und sehnen sich zugleich nach Ruhe.

Die existenzielle Suche hat Jaroslav Rudis in seinen Romanen Der Himmel unter Berlin und Grand Hotel mit starken Bildern versehen, in denen er U-Bahn- und Zugverkehr sowie Fernsehtürme zur symbolhaften Verdichtung einsetzt.

Die ebenfalls kürzlich auf Deutsch erschienene "Graphic Novel" Alois Nebel hat Rudis mit dem Zeichner Jaromír 99 kongenial gestaltet. Sie zeigt in beeindruckend intensiver Schwarz-Weiß-Story einen mitteleuropäischen Eisenbahn-Blues von einem Fahrdienstleiter, der auch grauenhafte Züge aus der Vergangenheit vorbeirollen sieht. Weil vor ihm ein Irrenhaus voller Geschichten aus dem vorigen Jahrhundert auftaucht, kommt er ins Sanatorium; nach dem Ende des Sozialismus macht er sich auf den Weg nach Prag. Alois Nebel findet man in Grand Hotel wieder - der Name steht für Hauptthemen der Werke von Rudis: die Doppelbödigkeit, die Zeitschleier, die meteorologischen Phänomene als Sinnbilder.

Im neuen Roman sind die Geschichten der Protagonisten wie die Stadt von Brüchen der Vergangenheit geprägt, wie Prag haben die Figuren einen Wandel mitgemacht. Das adäquate Motto bringt Hana, die in Lissabon bei Verhandlungen über das europäische Kulturerbe saß, von dort aus Pessoas Buch der Unruhe mit: "Letztlich bleibt vom Heute, was vom Gestern blieb und vom Morgen bleiben wird: das unstillbare, grenzenlose Verlangen, allzeit derselbe und zugleich ein anderer zu sein."

Den Einfluss Milan Kunderas auf seine Literatur hat Rudis mehrmals betont. Die Stille in Prag lässt sich als heutige Variante der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins (es ist eines der Lieblingsbücher von Hana, die im Roman von Rudis ja für literarische Verbindungen zuständig ist), als Fortschreibung lesen: am "verkaterten Morgen", dem sowohl die sprachliche Form als auch die Erzählhaltung entspricht. Seine Geschichten, sagt Rudis, sollen wie Songs mit wenigen Akkorden klingen.   (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 12./13.1.2013)