Bild nicht mehr verfügbar.

Der Blick von einem Kibbuz auf den Gazastreifen im vergangenen November: Die Rauchschwaden zeugen von jüngsten Luftangriffen.

Foto: EPA/EDI ISRAEL ISRAEL OUT

Holit - Donnerstagnachts, wenn in Israel das Wochenende beginnt, befinden wir uns im Luftschutzbunker. Im Kibbuz Holit, kaum einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt, ist der Bunker gleichzeitig ein Pub: Von außen mit Graffiti besprüht, drinnen wird zu Stroboskop und Discokugel wild gefeiert. Noch. Schon bald sollen wir erleben, was es bedeutet, unter der Bedrohung von Raketen zu leben.

Wir sind eine Gruppe von 70 Leuten aus vier Kontinenten, die zwischen Schule und Studium ein Auslandsjahr mit einer sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung machen. Die meisten von uns verlassen zum ersten Mal die Diaspora, um in einem jüdischen Staat zu leben. Es ist zwar umstritten, dass die Jugendbewegung einen Kibbuz so nah zur Gaza-Region gewählt hat, aber bisher ist es noch nie zu gröberen Problemen gekommen. Nach einem Monat fühlen wir uns schon fast wie zu Hause.

Kibbuz bedeutet im Hebräischen "Versammlung" und bezeichnet kleine Siedlungen, in denen die Bewohner gemeinschaftlich miteinander leben: Sie wohnen und arbeiten zusammen, oft teilen sie auch ihren Besitz.

In Holit haben wir ein dichtes Programm, bestehend aus Kursen über säkulares Judentum bis hin zu Ökonomie, Ausflügen durchs Land und Hebräischstunden.

An einem Donnerstagabend trommeln uns die Gruppenleiter wieder einmal zur wöchentlichen Besprechung zusammen, doch diesmal haben sie Wichtigeres mitzuteilen als die üblichen Moralpredigten über Zuspätkommen und Sauberkeit in den Zimmern. Die Situation mit Gaza ist gespannt, daher dürfen wir uns in den nächsten Tagen nie mehr als 15 Sekunden von einem Luftschutzbunker entfernt aufhalten. Also keine Spaziergänge mehr zu den Heubällen neben der Farm, an denen wir so gerne herumklettern.

Als wäre nichts geschehen

Niemand spielt den Helden, aber keiner nimmt die Situation so richtig ernst. Wir wissen ja, was im Ernstfall zu tun ist: in den Bunker flüchten, Tür und Fenster schließen und auf weitere Anweisungen der Gruppenleiter warten. Es ist wie im Videospiel: Wir kennen die Taktik, um zu gewinnen.

Müde von der Arbeit in den Zitronenplantagen lege ich mich nachmittags ins Bett, werde jedoch kurz darauf von einer monotonen Frauenstimme aus den Lautsprechern geweckt: Alarmstufe Rot! Obwohl mein Zimmer auch als Luftschutzbunker dient, gerate ich in Panik und benötige mehrere Versuche, das Fenster zu schließen. Erst als ich die kaputte Tür mit großem Schwung zuschmeiße und einrasten höre, kann ich mich halbwegs beruhigt aufs Bett setzen und allein im luftdichten Zimmer auf Anweisungen warten. Ich höre einen Knall nach dem anderen. Es sind Kassam-Raketen, selbstgebaute Kurzstreckenraketen aus dem Gazastreifen.

Beim Abendessen, nachdem die Gruppenleiter uns erlauben, wieder hinauszugehen, wird die Situation erst richtig absurd: Alle essen seelenruhig ihr Hühnerschnitzel und verhalten sich, als wäre nichts geschehen. Ich häufe ebenfalls meinen Teller, obwohl mir wirklich nicht nach Essen zumute ist. Ich muss schließlich noch andere Dinge verdauen als nur ein Schnitzel. Schockiert bin ich, aber Angst habe ich keine, obwohl man sie in solchen Situationen doch haben sollte.

Als um 4 Uhr in der Früh meine Mitbewohner in mein Zimmer stürmen, bin ich noch zu verschlafen um zu realisieren, dass wieder ein Alarm ausgelöst worden ist. Ich bleibe liegen und versuche weiterzuschlafen.

Umzug aus dem Krisengebiet

Am nächsten Morgen besprechen wir unsere Erfahrungen mit den Gruppenleitern. Keine Rakete ist in der Nähe des Kibbuz eingeschlagen, aber die Alarmsituation ist für uns sehr ungewohnt. Ich kann noch immer nicht definieren, wie ich mich fühle, und höre gespannt zu, ob es den anderen aus der Gruppe ähnlich ergeht. Jemand meldet sich zu Wort: " Angst hatte ich keine, denn ich wusste ja nicht, was mich erwartet. Die Rakete hätte auch ein feuerspeiender Drache sein können." Sowohl ich als auch einige andere beginnen zu schnipsen, ein Zeichen, dass wir der Aussage zustimmen.

Was für die Bewohner des Kibbuz Holit fast Alltag ist, wirkt für unsere Familien zu Hause wie eine hochgefährliche Situation. Die Organisatoren des Programms erhalten innerhalb von drei Tagen mehr als 100 E-Mails von besorgten Eltern, die verlangen, dass wir die Siedlung verlassen. Nicht dass die Situation so gefährlich wäre, aber die Verantwortung über 70 Jugendliche ist der Organisation dann doch zu heikel. Obwohl wir uns gegen die Entscheidung wehren, da wir uns sehr wohlfühlen in Holit, müssen wir in einen Kibbuz im Norden ziehen.

Als knapp eine Woche später die Gaza-Operation beginnt, sind wir schon weit von der Krisenregion entfernt. Während dort Raketen einschlagen, sitzen wir abends gemeinsam um ein Lagerfeuer und singen zu Gitarrenmusik, ganz abseits von Politik und Krieg. (Isabel Frey, DER STANDARD, 16.1.2013)