Ein Platz mit Geschichte: Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das ehemalige Zwangsarbeiterlager in der Grazer Kapellenstraße als Barackensiedlung für Flüchtlinge.

Foto: Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Bild- und Tonarchiv

Im Frühling 1945 arbeitete Hans Fugger als Krankenwärter im Lager Graz-Liebenau. Zu dieser Zeit diente das für die Unterbringung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern genutzte Barackenlager im Süden von Graz auch als Zwischenstation für tausende ungarische Juden auf ihrem Todesmarsch vom "Südostwall" ins KZ Mauthausen. Viele von ihnen waren so geschwächt, unterernährt und krank, dass sie nicht mehr weitergehen konnten, bei etlichen vermutete man Flecktyphus. Dennoch mussten sie die kalten Aprilnächte im Freien verbringen. Fugger wollte den Kranken zumindest die nötigen Medikamente verschaffen, die ausreichend vorhanden waren.

Daran aber wurde er vom Lagerleiter Nikolaus Pichler gehindert. "Für diese Schweine haben wir keine Medikamente", schrie er und befahl dem Krankenwärter, Morphiumspritzen herzurichten, denn man werde "die Juden nicht länger füttern". Als Fugger den Einsatz von "Todesspritzen" verweigerte und dem Gesundheitsamt eine Meldung machte, ließ Pichler 46 Kranke in den nahen Luftschutzkeller tragen. "Jetzt geht der Spaß los", soll er gesagt haben. Dann hörte man Schüsse.

Während der NS-Zeit war Graz von einem Netz solcher Lager für ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene überzogen. Eines der größten war das 1940 für umgesiedelte Volksdeutsche errichtete "Lager V" mit seinen 190 Holzbaracken in Liebenau. Was sich kurz vor Kriegsende in diesem von der Außenwelt abgegrenzten Hort der Menschenverachtung abspielte, hat die Grazer Historikerin Barbara Stelzl-Marx rekonstruiert und in Buchform gebracht.

Auf ihrer peniblen Spurensuche durchforstete sie unter anderem die Akten des Liebenauer Prozesses, die im Public Record Office in London verwahrt werden, da dieser Nachkriegsprozess wie viele andere von den britischen Besatzern durchgeführt wurde. "Eine wesentliche Quelle waren auch die damaligen Zeitungsberichte, welche den Prozess 1947 begleiteten", sagt Stelzl-Marx.

Eigentlich stieß die stellvertretende Institutsleiterin des Grazer Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung bereits vor 15 Jahren im Rahmen ihrer Untersuchungen zu Zwangsarbeitern in Graz auf das Liebenauer Lager und seine gut verdrängte Geschichte. "Aber erst als Murkraftwerksgegner 2011 auf die historische Brisanz des für die geplante Staustufe vorgesehenen Geländes hinwiesen und darüber berichtet wurde, rückte das Lager Liebenau auch ins Interesse der Öffentlichkeit und der Politik." Schließlich wurde Stelzl-Marx von der Stadt Graz und dem steirischen Energieanbieter Estag beauftragt, Licht in dieses dunkle Kapitel der Stadtgeschichte zu bringen. Die Streiflichter, die durch ihre akribischen Recherchen auf das Leben und Sterben im Lager Liebenau fallen, zeigen eine Welt von unvorstellbarer Brutalität.

Zeitzeugenberichte

So berichtete etwa die Neue Zeit vom 10. September 1947 über die Aussagen des Lagerinsassen Stephan Cermaschka bei der Gerichtsverhandlung: "Pichler (der Lagerleiter, Anm.) schrie: 'Wo sind die Juden, die Decken gestohlen haben?' Vier Mann wurden daraufhin vor Pichler aufgestellt, der sie fragte, ob sie Decken gestohlen hätten. Alle bejahten, der Letzte nickte nur mit dem Kopf. Pichler gab seinem Untergebenen Frühwirt den Befehl, diesen Juden zu erschießen. Frühwirt stellte den Häftling mit dem Gesicht zur Wand. Pichler schrie: 'Schieß ihm doch ins Gesicht!' Frühwirt drehte den Häftling um, setzte ihm die Pistole an die Stirne und zog ab. Daraufhin drehte er sich um, hob die Hand zum deutschen Gruß und schnarrte: 'Heil Hitler! Befehl ausgeführt!' Die übrigen drei mussten zurückgehen und berichten, dass jeder, der stehle, erschossen würde."

Eine der Zeuginnen war auch Susanne Geiger, die in der Lagerverwaltung gearbeitet hatte. Sie berichtete in der Gerichtsverhandlung davon, dass an die 60 ungarische Juden in eine Sandgrube am Murufer steigen mussten und dort erschossen wurden. Einer sei wieder herausgestiegen und hätte um Gnade gefleht. Frühwirt habe ihn daraufhin zurückgestoßen und erschossen.

Bereits kurz nach Kriegsende wurde das Grazer Polizeikommando über ein Massengrab im ehemaligen Zwangsarbeiterlager Graz-Liebenau informiert, Exhumierungen erfolgten aber erst im Mai 1947 unter Aufsicht der britischen Besatzungsmacht. "Insgesamt wurden 53 Leichen exhumiert", berichtet Stelzl-Marx, "mindestens 35 von ihnen wiesen Schusswunden auf. Nur wenige dürften vor den Erschießungen an Erschöpfung oder Krankheit verstorben sein." Die Untersuchungen ergaben auch, dass 26 Personen durch Genickschuss getötet worden waren - acht davon, als sie bereits in einer Grube lagen.

Zwei Todesurteile

Im September 1947 wurden die Verbrechen im Lager Liebenau durch den General Military Court untersucht. Die Briten haben der Schwere der Verbrechen Rechnung getragen - der Prozess endete mit zwei Todesurteilen. Nikolaus Pichler und Alois Frühwirt wurden am 15. Oktober 1947 wegen Mordes sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem österreichischen Kriegsverbrechergesetz "zum Tode durch den Strang" verurteilt.

Um zu überprüfen, ob das Urteil tatsächlich vollstreckt wurde, hat die Historikerin auch am Meldeamt recherchiert - und bei beiden Verurteilten das gleiche Sterbedatum gefunden, "was erfahrungsgemäß auf die Vollstreckung des Urteils hinweist". Nach dem aufsehenerregenden Prozess und der intensiven Berichterstattung durch die steirischen Medien wurde es bald sehr ruhig um das Liebenauer Lager. "Bisher war kaum jemandem bewusst, dass Graz eine wichtige Zwischenstation auf dem Todesmarsch der ungarischen Juden war", sagt die Historikerin. "Das ist einfach nicht im kollektiven Bewusstsein der Grazer verankert. Vielleicht ändert sich das jetzt - immerhin kann man nun genau lokalisieren, wo das Lager war und welche Spuren es hinterlassen hat." (Doris Griesser/DER STANDARD, 16. 1. 2013)