Wäre man ehrlich, würde die Frage nicht "Wehrpflicht oder Berufsheer?" lauten, sondern: "Neutralität oder Nato?" Sie könnte auch "Gesinnung oder keine?" lauten.

Die Gefahr, dass uns ein Nachbarland den Krieg erklärt und fremde Truppen in Österreich einmarschieren, bestehe laut Verteidigungsministerium nicht: Konventionelle Angriffe auf Österreich würden "der Vergangenheit angehören". (Presseaussendung BMLVS, 4. Oktober 2012)

Wozu, könnte man fragen, braucht dann Österreich eine Armee?

Erstens könnte es verfrüht sein, Österreichs Grenzen ungeschützt zu lassen.

Zweitens hat das Bundesheer in der Vergangenheit vorbildlich bei Naturkatastrophen der Bevölkerung geholfen und vor größerem Schaden bewahrt. "Ohne Wehrpflicht wären derartige Einsätze (...) nicht in diesem Ausmaß möglich." (BMLVS 21. Juli 2010)

Drittens haben Zivildiener in Krankenhäusern und Altersheimen, bei Rettungsdiensteinsätzen sowie in der Behindertenbetreuung vielen tausenden Menschen geholfen.

Viertens hat in einer Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich zunimmt und Solidarität wie Hilfsbereitschaft durch Egoismus und Geldgier ersetzt werden, das Zusammenleben und die gemeinsame Diensterfüllung der Söhne von Bauern und Arbeitern, Angestellten und Beamten, Akademikern und Unternehmern eine wichtige soziale Funktion.

Wenn man ein Heer haben will, von dem man annimmt, dass es militärisch kaum eingesetzt wird, soll man möglichst viele sinnvolle Aufgaben vorsehen, die der Bevölkerung zugutekommen. Nur wenn man vorhat, die Neutralität aufzugeben, der Nato beizutreten und Auslandseinsätzen in Zukunft höhere Priorität einzuräumen, macht das Berufsheer einen Sinn.

Österreich hat in den letzten hundert Jahren den Ersten Weltkrieg begonnen und im Zweiten Weltkrieg auf der falschen Seite gekämpft. Mit dieser Hypothek belastet, soll man sich zurückhalten, weltweit an Kriegshandlungen teilzunehmen, und stattdessen alle militärischen Maßnahmen auf die Verteidigung von Österreichs Grenzen beschränken.

Verdoppelte Kosten und ...

Österreichische Nato-Berufssoldaten am Hindukusch würden nicht die Freiheit Österreichs verteidigen, sondern vielmehr die innere Sicherheit unserer Heimat gefährden, weil einmal islamistische Fundamentalisten in Österreich zurückschlagen würden.

Dass ein Berufsheer bei gleichem Leistungsumfang mehr kostet als die allgemeine Wehrpflicht, sagt einem der Hausverstand, aber auch Minister Darabos: "Wir haben bei uns im Ministerium auch interne Berechnungen angestellt. Demnach würden sich bei einem Berufsheer die Kosten sogar verdoppeln." (3. Juli 2010)

Selten sind sozialistische Politiker so zynisch mit der Wahrheit umgegangen, haben Tatsachen verdreht und Zahlen manipuliert wie bei der derzeitigen Wehrpflichtdebatte, und das aus durchsichtigen Gründen, weil sie sich bei der nächsten Wahl von einer einflussreichen Zeitung eine Unterstützung versprechen. Gesinnung muss sich der Wahlstrategie unterordnen.

Es könnte in den nächsten Jahren auch zu Unruhen und das Militär zum Einsatz kommen. Wenn die Finanzkrise in Europa nicht auf wundersame Weise gemeistert wird, meinen Fachleute, dass der Lebensstandard der europäischen Bevölkerung drastisch sinken könnte. In diesem Fall besteht die Gefahr, dass Unruhen, wie sie zurzeit in Griechenland, Spanien und Portugal vorkommen, auch in anderen Teilen Europas, auch in Österreich, ausbrechen könnten.

Zu den im Wehrgesetz aufgezählten Aufgaben gehört, "die Ordnung und Sicherheit im Inneren aufrechtzuerhalten" (Wehrgesetz 2001, § 2). Eine alarmierende Vorstellung, dass bei Demonstrationen und Streiks "auf Gehorsam gedrillte Berufssoldaten" eingesetzt werden könnten.

Wenn die SPÖ das Wehrsystem verändern will, sollte sie sich Gedanken machen, wie sich Wehrdienstsoldaten von Berufssoldaten unterscheiden.

Ein zum Wehrdienst Einberufener hat in der Regel eine Lehre beendet, eine Mittelschule oder ein Studium abgeschlossen oder eine Berufswahl getroffen, um dann sechs Monate lang den Wehrdienst zu erfüllen; d. h. im Ernstfall die Heimat zu verteidigen, aber viel eher bei Naturkatastrophen Mitmenschen vor Schaden zu bewahren oder als Zivildiener Alten und Kranken zu helfen. Dann kehren diese Menschen in ihr normales Leben zurück.

Junge Männer, die sich für ein Berufsheer entscheiden, widmen ihr Leben einem Beruf, der letztlich auf das Töten von Menschen ausgerichtet ist - dazu sind Gewehre, Panzer etc. vorgesehen. Um Rekruten erfolgreich zu werben, ist es notwendig, das Soldatentum zu glorifizieren und den Krieg als Handwerk zu rechtfertigen. Eigenschaften wie Disziplin, absoluter Gehorsam und Korpsgeist führen zur Entfremdung von der restlichen Bevölkerung. Ein Berufsheer führt zu einem "Staat im Staat", zum Entstehen einer Militärkaste, zu Militarismus.

... Gefahr eines Rückschlags

Schon einmal versagte die Sozialdemokratie, als sie 1914 für die Kriegsermächtigungsgesetze und Kriegskredite stimmte, was den Ersten Weltkrieg ermöglichte und zum Ende der Ersten Sozialistischen Internationale führte.

Österreich hat sich in den letzten 60 Jahren in bewundernswerter Weise entwickelt. Wir haben die Sozialpartnerschaft erfunden, eine soziale Marktwirtschaft gepflegt, die "große Koalition" als Regierungsform perfektioniert, Kompromissbereitschaft im politischen Alltag etabliert, gemeinsam die Atomenergie abgelehnt, die Verwendung von Gentechnologie aus der Landwirtschaft verbannt, Kriegsspielzeuge für Kinder verpönt, die Herstellung und Ausfuhr von Kanonen abgestellt, den Wehrdienst als Pflichterfüllung akzeptiert und den sozialen Frieden ausgebaut. Nach Jahrtausenden Menschheitsgeschichte, in denen Kriege zur Normalität gehörten, hat Österreich eine höhere Ebene der politischen Kultur erreicht. Eine Entscheidung für ein Berufsheer wäre ein Rückschlag für den sozialen Fortschritt der letzten sechs Jahrzehnte.

Minister Darabos hat die wichtigsten Überlegungen dazu wie folgt zusammengefasst: "Für mich ist die Wehrpflicht keine budgetäre Frage, sondern eine politische. Das österreichische Mischsystem beim Bundesheer hat sich bewährt. Unser Heer ist so bestens in die Gesellschaft integriert. Und ich weiß auch aus verschiedenen Gesprächen mit Amtskollegen, dass ein Berufsheer keinesfalls eine kostengünstigere Variante ist. Wir haben bei uns im Ministerium auch interne Berechnungen angestellt. Demnach würden sich bei einem Berufsheer die Kosten sogar verdoppeln. Nein, für ein neutrales Land macht unser Mischsystem durchaus Sinn. (...) Für mich ist die Wehrpflicht in Stein gemeißelt. Mit mir als Verteidigungsminister wird es kein Ende der Wehrpflicht geben." (Tiroler Tageszeitung, 3. Juli 2010)

Wo und wann ist diese Gesinnung verlorengegangen? (John Sailer, DER STANDARD, 18.1.2013)