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Seit letzter Woche, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, nimmt der #aufschrei seinen Lauf.

Foto: ap/Oliver Lang

Es begann vergangene Woche, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, mit Tweets von Nicole von Horst (@vonhorst). Sie postete Erfahrungsberichte wie "Der aufdringliche Typ, der mich Bitch nannte, nachdem ich lange mit ihm rumhing und in einer Pause von einem anderen Typ angesprochen wurde". Anne Wizorek alias @marthadear schlug noch in derselben Nacht den Hashtag #aufschrei vor, unter dem auch andere ihre Erfahrungen posten sollten. Nur wenige Stunden später waren unter dem Hashtag tausende Erfahrungsberichte zu finden.

Nun stehen von Horst und Wizorek vor den Kameras großer deutscher Talkshows, geben ein Interview nach dem anderen und erzählen, wie sie es gemeinsam geschafft haben, gegen Alltagssexismus zu mobilisieren. Ausgangspunkt war der "Fall Brüderle"; die "Stern"-Journalistin Laura Himmelreich berichtete in ihrem Porträt über unangemessene Komplimente des FDP-Politikers ("Sie könnten ein Dirndl ausfüllen"). Hätte ihn seine Pressesprecherin nicht davon abgehalten, wäre er auch noch weiter gegangen, schreibt Himmelreich. 

dieStandard.at sprach mit Nicole von Horst, jener Frau, die den ersten Tweet tat, über den Verlauf der Debatte und die Reaktionen auf Twitter.

dieStandard.at: Haben Sie damit gerechnet, dass der Erfahrungsaustausch auf Twitter dermaßen große Wellen schlägt?

Von Horst: Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass die ganze Aktion so eine große Resonanz erfährt, vor allem, weil sie nicht geplant, sondern eher zufällig begonnen hat. Der mediale Rummel nimmt mich nicht in dem Ausmaß ein wie Anne, aber auch ich merke, dass Schlaf fehlt und Zeit, selbst in Ruhe zum Thema zu bloggen.

dieStandard.at: Warum schlägt das Thema jetzt derart ein? Liegt es an der Aufregung um Brüderle oder eher an den Kanälen wie Twitter, die so etwas nun stärker und anders aufgreifen?

Von Horst: Ich glaube, dass zur richtigen Zeit ausreichend viele Beiträge zusammengekommen sind, auf deren Grundlage die Twitter-Aktion so gut funktionieren konnte, dass gerade jetzt insgesamt mehr Aufmerksamkeit für das Thema da war - also der "Stern"-Artikel ist nur ein Teil davon und Twitter nur das Vehikel.

dieStandard.at: Wie geht es Ihnen mit dem Verlauf der Debatte? Sehen Sie sie als Erfolg?

Von Horst: Die Debatte verfolge ich mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich über jede Frau, die von ihren Erfahrungen erzählt. Ganz besonders, wenn es Frauen sind, die in der medial geführten Debatte nicht vorkommen oder mitgedacht werden, wie Transfrauen, lesbische und queere Frauen, schwarze Frauen oder Frauen, die ein Kopftuch tragen und deshalb nicht nur Sexismus erleben, sondern damit verknüpft die jeweiligen anderen Diskriminierungsformen. 

Andererseits stört es mich sehr, dass die Debatte sich um die Befindlichkeiten von weißen Hetero-Männern dreht, darum, was sie denn noch dürfen, ohne kritisiert, möglicherweise angezeigt zu werden, statt zu überlegen, was sie tun können, um nicht zu verletzen. Außerdem nervt es mich, wenn von der Diskussion abgelenkt wird, indem man versucht, Sexismus "umzudrehen" und darüber zu reden, dass Frauen sich ja auch voll schlimm und supersexistisch verhielten.

dieStandard.at: Denken Sie, dass die Debatte nachhaltig etwas verändert? Immerhin gibt es schon lange einen regen Aktivismus von Feministinnen im Netz.

Von Horst: Ich bin fest davon überzeugt, dass feministischer Aktivismus, im Netz wie außerhalb davon, etwas verändert, wenn auch sehr, sehr langsam. Diese Debatte hat zwar in sehr kurzem Zeitraum viele Menschen erreicht, aber die nachhaltige Veränderung wird auch in diesem Fall wahrscheinlich einige Zeit dauern. Das Thema soll nicht nach dem Hype versanden; wir sammeln und dokumentieren langfristig auf alltagssexismus.de diese Geschichten.

dieStandard.at: An der Twitter-Aktion wurde kritisiert, dass nicht zwischen den "üblichen Anmachsprüchen" und sexueller Gewalt unterschieden wird - wie sehen Sie das?

Von Horst: Ich finde es wichtig, alle Vorkommnisse zusammenzutragen, von den unscheinbaren blöden Sprüchen bis hin zu Gewalt. Ja, sie sind unterschiedlich und wiegen unterschiedlich schwer, aber sie alle, auch die kleinste Kleinigkeit, tragen dazu bei, den sexistischen Normalzustand zu erhalten. Der gesellschaftliche Raum, in dem respektlose Anmachsprüche fallen, ist derselbe, in dem Vergewaltigungen stattfinden und nicht strafverfolgt werden.

dieStandard.at: Wie interpretieren Sie das Vorgehen des "Stern" gerade jetzt über diesen Vorfall zwischen Himmelreich und Brüderle zu berichten, der schon ein Jahr zurückliegt. War das Taktik, um Brüderle zu demontieren? 

Von Horst: Dazu kann ich nicht viel sagen. Es wäre mir lieber, wenn sich die Debatte von Brüderle wegbewegen würde, weil es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem handelt. Außerdem beschäftigt sich Ihre Frage wieder damit, welchen Schaden ein Mann nehmen könnte, der sexistisches Verhalten vorgeworfen bekommt.

dieStandard.at: Welcher Diskussionsbeitrag hat Sie am meisten geärgert?

Von Horst: Frau Bruhns (Wibke Bruhns war zur Gast in Günther Jauchs Sendung "Herrenwitz mit Folgen - hat Deutschland ein Problem?", Anm.) mit ihrer These, dass Männer und Frauen verschiedene Spezies seien, so wie Kuh und Ochs und Stier, und damit, dass das halt so sei und sich nicht mehr ändere. Und Frau Ebelings Beiträge (Monika Ebeling, Autorin von "Die Gleichbehandlungsfalle", war unter anderem zu Gast bei Anne Will, Thema "Sexismus-Aufschrei - hysterisch oder notwendig?", Anm.), vor allem deshalb, weil sie immer wieder eingeladen wird, obwohl sie in der neurechten und in der Maskulinismus/Antifeminismus-Szene zu verorten ist.

dieStandard.at: Wie steht es um negative oder übergriffige Kommentare auf Twitter, die Sie persönlich aufgrund von #aufschrei erhalten? 

Von Horst: Darüber kann ich lachen. Noch gehen sie nicht an meine Substanz. Es ist recht amüsant, wenn Trolle mich siezen, während sie versuchen, mich zu beleidigen. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 31.1.2013)