"Wir haben schon jetzt viele Erinnerungslücken in Afrika", sagt der im westafrikanischen Mali geborene Schriftsteller Mohomodou Houssouba.

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Ein Manuskript des Ahmed-Baba-Zentrums, das vom Feuer beschädigt wurde.

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STANDARD: In den vergangenen Tagen erreichte uns die Nachricht, dass die wichtigste Bibliothek von Timbuktu, das Zentrum Ahmed Baba, von Islamisten zerstört worden sei. Dann hieß es, die meisten Bücher seien vorher in Sicherheit gebracht worden. Wissen Sie, wie groß der Schaden tatsächlich ist?

Mohomodou Houssouba: Nein. Die Lage ist im Moment sehr unübersichtlich. Ich habe mit Menschen in Gao und Bamako gesprochen, aber auch die wissen nicht, was passiert. Sie fahren auch nicht zwischen den Städten hin und her, weil es gefährlich ist. Die Bibliothek ist angezündet worden, so viel ist sicher. Das ist sehr deprimierend.

STANDARD: Rund 30.000 Bücher befanden sich in der Bibliothek. Was sind das für Schriften?

Houssouba: Viele Werke stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Aber es gibt auch ganz seltene Stücke aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Es ist eine große Vielfalt an Texten, die die Kultur des Nahen und Fernen Ostens widerspiegelt. Denn die Bücher kamen aus Ägypten, Marokko, Tunesien, sogar aus Andalusien. Zu den wertvollsten Stücken gehören frühe Abschriften des Koran aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Aber es gibt alles: Juristische Schriften, naturwissenschaftliche, literarische. Am bedeutendsten sind wohl die Schriften zum islamischen Recht.

STANDARD: Auf den ersten Blick scheint es absurd, dass die Islamisten ihre eigenen Kulturschätze zerstören. Warum tun sie das?

Houssouba: Man spricht ja viel von einem Ikonoklasmus der Salafisten, also davon, dass sie Bilder ablehnen und zerstören. Aber zugleich produzieren sie selbst eine Masse an neuen Bildern: Bilder von Zerstörung und Qual, die ihrer Propaganda dienen sollen.

STANDARD: Man nennt Timbuktu auch die "Stadt der 333 Heiligen". Die Salafisten sind gegen diese mystischen Aspekte der Religion.

Houssouba: Bis heute sind die Einwohner Timbuktus ihren lokalen Heiligen sehr verbunden. Die Islamisten wollen diese alten muslimischen Gemeinschaften, die sich im Sahel herausgebildet haben, zerstören: physisch, materiell und spirituell. Timbuktu war dafür eine ideale Bühne.

STANDARD: Die Mausoleen gehören zum Weltkulturerbe der Unesco, einer Organisation, die ihren Sitz in Frankreich hat. Spielt der Hass auf den Westen eine Rolle?

Houssouba: Ja, ich lese das auch als eine Ablehnung säkularer Institutionen. Aber die Taten der Islamisten sind widersprüchlich und inkohärent, die ideologische Erklärung ist oft dünn. Das Ziel ist eine globale Unsicherheit.

STANDARD: Wie reagieren die Menschen auf die Zerstörung?

Houssouba: Die Zerstörung trifft das Herz Malis. Die Menschen sind wie in tiefer Trauer. Die Ereignisse werden die Haltung Malis zur Welt verändern. Vor allem aber die Beziehung zu den Nachbarländern Algerien und Mauretanien, aus denen viele der Islamisten stammen.

STANDARD: Ist es möglich, die Mausoleen wieder aufzubauen?

Houssouba: Technisch müsste das möglich sein, denn sie sind gut dokumentiert. Aber es gibt natürlich Skulpturen und alte Materialien, die mit der Zerstörung unwiederbringlich verschwunden sind.

STANDARD: Zuletzt wurde das Zentrum Ahmed Baba angezündet, das Bibliothek und Forschungszentrum zugleich ist. 1973 wurde es mit viel Geld aus Südafrika gegründet, erst vor drei Jahren wurde der jetzt zerstörte Neubau eröffnet. Welche Rolle spielt das Zentrum für die Schriftkultur Timbuktus?

Houssouba: Viele Bücher sind im Privatbesitz. Das Zentrum Ahmed Baba beherbergt aber die größte Sammlung von Schriften in Timbuktu. Es ist außerdem ein Ort, an dem interdisziplinär geforscht wird. Linguisten, Juristen, Theologen, Kalligrafen kommen dorthin und betrachten die Dinge aus ihrer jeweiligen Perspektive. Zusammen gewinnen sie ein vollständiges Bild und können Stück für Stück die Geschichte der Region rekonstruieren. Damit meine ich nicht den Norden Malis, sondern auch Mauretanien, Senegal, Nigeria; ein großer Teil dessen, was wir Sahel nennen.

STANDARD: Was macht die Bücher und Schriftrollen so wertvoll?

Houssouba: Da gibt es zunächst den ästhetischen Aspekt. Eine Koran-Abschrift aus dem 12. Jahrhundert mit einer wunderschönen Kalligrafie ist eben einmalig. Der größte Verlust aber wären die Ideen, die gedacht und aufgeschrieben wurden. Die Schriftrollen sind zum großen Teil noch nicht katalogisiert worden. Wenn das Original beschädigt oder zerstört ist, gibt es nirgendwo eine Kopie. Das Wissen wäre verloren.

STANDARD: In welcher Sprache sind sie verfasst?

Houssouba: Es gibt zum einen Werke im klassischen Arabisch. Zum anderen Schriften in Ajami, das ist eine Art "sudanisiertes" Arabisch. Diese Schrift hat sich im Sahel bis hin in den Norden Nigerias ausgebreitet, weil das arabische Alphabet nicht ausreichte für alle phonetischen Laute, die in der Region üblich waren. In dieser Schrift hat man dann das Arabische wiedergegeben oder die lokalen Sprachen. Das war für die weniger gebildeten Leute einfacher zu lesen.

STANDARD: Welchen Stellenwert haben die Schriften für die Region?

Houssouba: Weil es nicht viel Schrift gab, wissen wir wenig über die Geschichte des Kontinents. Die Schriften von Timbuktu aber dokumentieren die Kultur, den Handel, die Reisen, den Austausch und die Offenheit, die es hier gab. Timbuktu ist in gewisser Weise das Gedächtnis Afrikas. 8Mounia Meiborg, DER STANDARD, 2./3.2.2013)