Wolfgang Müller-Funk: Inhalt statt Ritualen.

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Seit der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch den Begriff der Postdemokratie in Umlauf gesetzt hat, ist die gesellschaftspolitische Debatte um ein wirksames Schlagwort reicher. Dessen Bedeutung läuft darauf hinaus, dass wir uns auf ein Gemeinwesen zubewegen, das zwar formal am Modus von Wahlen festhält, das aber von konkurrierenden Teams professioneller Berater und Medienexperten gesteuert wird, die die Wahlkämpfe zu einem Spektakel verkommen lassen. Es handelt sich um eine neoliberale und technokratische Form der Verwaltung der Bürger, die deren politische Enteignung impliziert. Die Postdemokratie mutiert in diesem Szenario zum leeren Gehäuse und zur Parodie einer vollwertigen Demokratie. Die politische Apathie der Bürger - Crouch denkt ganz offenkundig an die britische Demokratie - ist von daher betrachtet nur die logische Folge dieser politischen Entwicklung.

Mit Blick auf den österreichisch-kontinentaleuropäischen Kontext lassen sich freilich weitere Formen der Aushöhlung konstatieren. So ist die schillernde "Postdemokratie", deren Zeugen wir heute werden, nicht einfach ein später demokratischer Leerlauf, sondern diese Gegenläufigkeit ist Strukturmerkmal der Demokratie selbst. Überspitzt formuliert lässt sich sagen, dass die österreichische Nachkriegsdemokratie von Anfang an post- oder auch prädemokratisch gewesen ist, wurde bei den ritual zelebrierten Wahlen doch höchst selten über Regierungsalternativen abgestimmt.

Eine derartige Konstellation der verfestigten und gelenkten, von Massenmedien und halbstaatlichen Interessenverbänden flankierten Demokratie führt zwangsläufig zu einer Situation, in der die ewige Opposition, ob grün oder hellbraun, permanent gegen das "System" wettert, von dem sie strukturell uneingestandenermaßen und ohne Risiko lebt. Die von Crouch diagnostizierte Expertokratie fügt sich gut ins Bild, denn auch sie ist dadurch charakterisiert, dass sie über keinerlei demokratische Legitimation verfügt und, mehr noch, für ihre stille, aber nicht unerhebliche Macht keine Verantwortung trägt.

Die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit und die sie begleitende Korruption, die bekanntlich nicht nur die Alpenrepublik erschüttert, sind nicht leichtzunehmen, keine Demokratie kann auf Dauer damit leben. Aber Fakt ist auch, dass Demokratien diese Probleme lösen können - wenn sie wollen. Ob diese Phänomene wirklich gravierender sind als in früheren Jahrzehnten, ist nicht ganz sicher, fest steht nur, dass sich die Sensibilität für solche Phänomene, aber auch die Methoden des Aufdeckungsjournalismus geschärft haben.

Bemerkenswert ist, dass die gegenwärtige Situation keinen positiven Stimmungsumschwung hervorruft, sondern jenes halbdepressive, lähmende Gefühl verstärkt, das sich mit dem lustlosen Weiterwurschteln verschwägert, frei nach dem Motto, wenn die große Koalition arithmetisch nicht mehr stimmt, dann nehmen wir halt die Grünen mit ins sinkende Boot - ein demokratiepolitisch katastrophaler Vorschlag.

Die Aufdecker in Politik und Medien konzentrieren sich auch deshalb so gern auf das korrupte "System", weil diese politische Kraftanstrengung verdeckt, dass sie selbst keine wirklichen Alternativen anzubieten haben. Es handelt sich um klassische Ersatzhandlungen. Postdemokratie könnte heißen, dass die utopischen Energien und Konnotationen, die einmal mit der westlichen Demokratie verbunden waren, aufgezehrt sind. Die Idee einer sozialen - historisch freilich obrigkeitsstaatlichen - Demokratie ist ebenso von der Bildfläche verschwunden wie die Beschwörung der Zivilgesellschaft nach 1989 - sie wurden gleichsam von der kollektiven Befindlichkeit des Postdemokratismus und seiner Prosa verschluckt.

Die Vorstellung von der Demokratie als Ziel und Prozess wird abgelöst von der resignativen Einsicht, dass man sie halt erträgt so wie eine in die Jahre geratene Beziehung, die nur mehr von früheren Beständen und von der Gewohnheit lebt. In dieser Situation erscheint die "direkte Demokratie" als Heilmittel verheißungsvoll, aber sie dürfte - und das ist von ihren Proponenten auch beabsichtigt - das Unbehagen in der und an der Demokratie kaum beschwichtigen, sondern möglicherweise erst richtig entfachen. Wir leben heute in einer Situation, die sich mit einem Kippbild vergleichen lässt: Reste von alternativdemokratischen Wunschbildern von Partizipation auf der einen, Schreckbilder von geballten Populismen auf der anderen Seite, wie jene politischen " Aufräumbewegungen" von Frank oder von Strache, die entschlossen sind, die Unzufriedenheit der da unten für sich zu kanalisieren - am Ende würden wir dann nicht wissen, ob wir uns noch in einer Postdemokratie befinden.

Populismus, Korruption und Ungleichheit sind Phänomene, die der marktkapitalistischen Zivilgesellschaft keineswegs äußerlich wären; sie schlummern seit der Französischen Revolution, die einen Napoleon gebar, als selbstzerstörerisches Potenzial in ihr. Vornehme Aufgabe demokratischer Parteien muss es sein, die prekären Leidenschaften zu mäßigen und die politischen Falschgeldspieler unaufgeregt vom Platz zu stellen.

Was tun in grauen Zeiten? Zunächst einmal wäre es an der Zeit, den Spielregeln der repräsentativen Demokratie, zum Beispiel der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Regierungsoptionen, zum Durchbruch zu verhelfen, neue Formen von Kommunikation zwischen den Bürgern und der Politik zu entwickeln und all jene Formen von Partizipation in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu unterstützen, bei denen Eigenverantwortlichkeit im Spiel ist. Nur dann lässt sich den Volkstribunen von heute und ihrem demokratischen Gerede ein Riegel vorschieben. Deren Politik führt von der Postdemokratie stracks in die Afterdemokratie eines Berlusconi. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD, 12.2.2013)