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Hermann Lenz (1913–1998): Erst Peter Handke verhalf ihm zur  Anerkennung durch die Zeitgenossen.

Foto: apa/Frank Mächler

Stuttgart  – Peter Handke war ge rade einmal 31 Jahre alt, in literarischen Kreisen aber schon eine Berühmtheit. In der Süddeutschen Zeitung hatte er einen Artikel über den eine Generation älteren Kollegen Hermann Lenz (1913–1998) veröffentlicht, den wiederum kaum jemand kannte oder wahrgenommen hätte. Handkes Text war dazu angetan, auf einen Dichter aufmerksam zu machen, der  zu dieser Zeit in Stuttgart als Sekretär des Schriftstellerverbands arbeitete und bei wenig bekannten Verlagen etliche Bücher publiziert hatte, von denen freilich kaum jemand Notiz nahm.

Handkes Text Einladung, Hermann Lenz zu lesen machte das Publikum auf einen Dichter neugierig, der so ganz anders war  als die Wortschaffenden aus dem Geist der Gruppe 47, die bis in die 1970er hinein tonangebend waren auf dem Literaturmarkt der BRD. Beide Schriftsteller sind Grenzgänger. Lenz bleibt der "Wanderer", immer ein bisschen unsicher, zögerlich, der sich seiner selbst vor allem in der Natur vergewissert, so wie es in dem Roman Der Wanderer heißt: "Und wenn die Wälder alle tot und kahl sind, können sie bei dir noch nachlesen, wie alles einmal war – au net schlecht …"

Als "Fremdling" und "erledigt" hatte sich Lenz lange Zeit selbst gesehen. Und in der Tat schien dieser Autor, den heute viele als "schwäbischen Proust" bezeichnen, für die Gegenwart nicht geschaffen. Sein ureigener Bezirk,  in dem sich sein Alter Ego Eugen Rapp bewegt, wird in der Erinnerungsschärfe seiner Schilderung zur Endstation einer Fluchtbewegung ins Immer und Überall, vielleicht auch ins Niemandsland. Protagonist Eugen Rapp – Antiheld in einer langen Reihe autobiografischer Romane – verliert sich keineswegs im Eskapismus, sondern findet sich immer wieder abrupt in einer Realität wieder, die kein Abseitsstehen duldet.

 Fremd im Hier und Heute 

Dieser Eugen Rapp war auch einmal jung. Im zweiten Band des neunteiligen autobiografischen Romanwerks Andere Tage beschreibt ihn der Autor bereits als melancholischen Träumer. In der Erzählung Der Tintenfisch in der Garage von 1968 lässt Lenz den Studenten Ludwig die Ansicht vertreten, man könne sich nicht an der Zukunft orientieren, sondern nur an dem, was man erfahren habe. "Ich beneide alle Alten. Sie haben das meiste hinter sich." Dieser Rapp! In all den Jahren seiner irdischen Wanderung ist sein Haar weiß geworden. Er "sah wie einer aus, der oft in Wald und Flur herumgeht und deshalb über ein besänftigtes Gemüt verfügt."

Ein Fremdling ist auch einer  seiner Romane betitelt. Und diese Rolle akzeptierte Lenz mit einer ausschließlich auf sein Werk konzentrierten Unbeirrbarkeit, die ihm den Ruf eines "schwäbischen Stoikers" eingebrachte. Als Randsteher hatte der Schriftsteller Lenz schon früh die Erfahrung gemacht: "Du gehörst nicht dazu." 

Als Sohn eines Studienrats, geboren in Stuttgart, musste er sein Studium abbrechen, als er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er konnte sich nach der amerikanischen Gefangenschaft glücklich schätzen, unversehrt heimgekehrt zu sein und nie auf jemanden geschossen zu haben. 

Wie sein Alter Ego schlug er sich nach dem Krieg als miserabel bezahlter Sekretär eines Kulturvereins, später eines Schriftstellerverbandes durchs Leben. Ohne seine Frau Hanne Trautwein, die als Treutlein Hanni in den Rapp-Romanen ihren Part hat, hätte Lenz diese Notzeit kaum überstanden. Aber er hatte seiner jüdischen Lebensgefährtin in der Nazizeit die Treue gehalten. Es gehört zu den Treppenwitzen der Literaturgeschichte, dass Lenz ausgerechnet bei der sich antifaschistisch gerierenden Gruppe 47 als "Konservativer" durchfiel, weil er sich nicht auf die Schwarz-Weiß-Malerei der Vergangenheit einlassen wollte.

Nach der Handke-Intervention kam der Erfolg, auch der Büchnerpreis. Suhrkamp nahm seine Bücher in das Verlagsprogramm auf. "Eine mit Überordentlichkeit verkleidete Angst" sei der Urgrund aller Lenz-Bücher, so Handke. Aber es bleibt doch staunende Bewunderung angesichts eines Werks, dem es wiederholt gelingt, auch im Schatten der Katastrophe dem Schönen Raum zu geben. (Wolf Scheller, DER STANDARD, 26.2.2013)