1. Vor der Box liegen die Medikamente bereit, der Patient ist nüchtern.

Foto: STANDARD/Heribert Corn

2. Der Patient Shadow Blue Eye, medikamentös beruhigt.

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3. Ohne mit der Wimper zu zucken, zuckelt der Patient zum Einschlafen Richtung Aufwachbox.

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4. Die Anästhesie wird eingeleitet.

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5. Der Patient liegt, der Tubus wird durch Maulsperre und Kiefer in den Hals geschoben.

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6. Das Anästhesie-Team fungiert wie eine Mischung aus Kopilot und Flugsicherung. Erst nachdem die Anästhesistin grünes Licht gibt, wird der erste Schnitt gesetzt.

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7. Shadow Blue Eyes Bauch wird rasiert, gewaschen und mit Alkohol behandelt, medizinisch: Das OP-Feld wird vorbereitet.

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Seit null Uhr null kriegt er nichts zu essen. Ein Küberl, mit einem Lederriemen um den Kopf geschnallt, hindert ihn daran. Warum er das Ding am Maul hat, versteht er nicht und wiehert empört. Shadow Blue Eye ist ein Quarter Horse vulgo Western-Pferd, mit einem Stockmaß von 1,53 und einem Gewicht von 394 Kilo. Er hat ein braunes und ein namensspendendes blaues Auge, ist jugendliche zweieinhalb Jahre alt und Hengst. Letzteres soll sich ändern, wie bei fast jedem männlichen Pferd, das nicht zur Zucht verwendet werden soll. Also steht Shadow um neun Uhr morgens in einer Box der Klinik der Veterinärmedizinischen Universität Wien und wartet unwissentlich auf seine Kastration.

Routine mit Risiko

Anästhesisten, Pfleger, Assistenten der Chirurgie schwirren um ihn herum, hören seinen Bauch ab und leiten die Vorbereitungsphase für die Operation ein. Die ist zwar ein Routineeingriff, dennoch haben die OP-Teams großen Respekt, kann es doch aller Routine zum Trotz zu Komplikationen kommen. Zum Beispiel bei der Anästhesie selbst. Das Fluchttier Pferd verzichtet höchst ungern auf die Kontrolle über seinen Körper und kämpft mit aller Kraft und allen vier Beinen um den festen Stand und die Möglichkeit davonzurennen. Und weil ihm das nicht auszureden ist, kommt es immer wieder zu fatalen Folgen, als ob das schiere Risiko der Narkose beim großen, schweren Patienten nicht schon groß genug wäre. Eines von hundert Pferden stirbt in Narkose, im Gegensatz dazu einer von 500.000 Menschen.

Allerdings: "In die Statistik kommen etwa auch Pferde, die sich beim Aufwachen und den Aufstehversuchen ein Bein brechen," erklärt Yves Moens, Professor für Anästhesiologe und perioperative Intensivmedizin an der Vetmed. Wenn man den Begriff der durch Anästhesie verursachten Mortalität eng fasst, ist man direkt in Moens' Forschungsgebiet, der Lungenfunktion des Pferds unter Anästhesie.

Das Problem entsteht, wenn der große Körper zu liegen kommt und die Lunge zusammengedrückt wird, sodass diese nur wenig Luft aufnehmen und – sehr vereinfacht gesagt – demgemäß wenig Sauerstoff in den Organismus abgeben kann. Es geht also erstens darum, die Anästhesisten technisch in die Lage zu versetzen, die Lungenfunktion präzise und spezifisch zu überwachen, und zweitens darum, die Lunge technisch durch Ventilation maschinell zu belüften und etwa die Blutgaswerte für die Dauer der Narkose stabil zu halten. Was wann genau gemacht, gespritzt und ventiliert werden muss, entscheidet etwa die Anästhesistin Ulrike Auer, auch mit dem Gefühl, das man nur aus Erfahrung bekommt, wie sie betont.

Shadow Blue Eye bekommt zunächst einen Katheter in die Halsvene gesetzt. Sobald die Aufregung abebbt, gibt es dem Standardprotokoll entsprechend die dem Körpergewicht angemessene Dosis Antibiotika. Die anschließende Sedierung vulgo Wurschtigkeitsspritze nimmt er schon wie ein Profi. Hat diese ihre Wirkung entfaltet, marschiert Shadow, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, am Führstrick des Pflegers in die neben dem Operationssaal liegende Aufwachbox, die in der OP-Vorbereitung quasi als Umfallbox dient. Shadow wird von drei Menschen an die gepolsterte, grün bespannte Boxenwand gedrückt, ein vierter packt den Schweif in schützenden Kunststoff, damit er dem Operateur nicht in die Quere kommt, ein fünfter lässt das Anästhetikum in den Blutkreislauf. Shadow fallen die Augen zu, er wankt.

Gerade fünf Minute dauert es, bis Shadow nichts mehr weiß von der Welt und die Anästhesistin das muskelentspannende Medikament in den Blutkreislauf lässt. Unmittelbar versagen die Beine. Drei Menschen helfen am Rumpf, zwei am Kopf und einer am Schweif beim geordneten Umfallen. Shadow liegt. Dann geht alles zack, zack!

Eine Maulsperre zwingt die Kiefer auseinander, der ehrfurcht-einflößende, weil circa ein Meter lange Tubus wird in den Hals geschoben. Fast gleichzeitig werden Shadows Beine in gepolsterte Fesseln gepackt und an den Lastenkran gehängt. Auf geht die Tür zum OP, der bewusstlose, intubierte Patient wird Bauch nach oben auf den OP-Tisch gehievt.

Dreifach anästhesiert

Der Bauch bleibt himmelwärts gewendet. Das Team um Chef-Operateurin Rhea Haralambus bereitet das sogenannte OP-Feld vor. Der Bauch wird rasiert, kräftig eingeseift, abgespült und mit Alkohol nachbehandelt. Allen vier Hufen werden violette Gummihandschuhe übergezogen. Die Anästhesisten kontrollieren die Anzeigen auf dem Monitor. Die Ventilation läuft, die Medikamentengabe in die Vene ebenfalls. Dann wird noch eine Lokalanästhesie direkt in den zu entfernenden Hoden gesetzt. "Diese klassische balancierte Anästhesie ermöglicht die beste Wirkung bei möglichst geringen Nebenwirkungen", erläutert Ulrike Auer und holt zur Bestätigung einen Ausdruck der Kennzahlen aus dem Überwachungsgerät. Shadow Blue Eye, den bald der erste Schnitt durch das Skalpell der Weichteil-Chirurgin ereilt, geht es aus anästhesiologischer Sicht bestens. Durch die Fastenphase gebe es kaum Magen- und Darminhalt und daher kaum Druck auf die Lunge.

"Anästhesie, können wir schneiden?" fragt die Chef-Chirurgin. Dann ist Shadow Blue Eyes Hengst-Schicksal besiegelt. Die nächsten kritischen Momente lauern postoperativ in der Aufwachbox. Shadow Blue Eye wird sich ohne fremde Hilfe aufrappeln müssen und quasi selbstständig in die – geruhsamere – Zukunft als Wallach starten müssen. (Bettina Stimeder, DER STANDARD, 27.02.2013)

=> Wissen: Komplettes Bild vom Atmen

Wissen: Komplettes Bild vom Atmen

Yves Moens, Professor für Anästhesiologie und perioperative Intensivmedizin an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, widmet seine Forschung der Verringerung der Sterblichkeit im Zusammenhang mit Anästhesien bei Pferden.

Dazu wurden unter seiner Ägide den Großtieren angepasste Überwachungstechnologien wie Lungenspirometrie, ein volumetrisches Verfahren (räumlich-quantitative Analyse) und Ultraschall-Plethysmografie (Verfahren zur Bestimmung von Volumsschwankungen eines Organs) entwickelt. Dazu kommt die Entwicklung der Elektrischen Impedanz-Tomografie für Pferde. Dabei handelt es sich um einen mit Elektroden besetzten Gurt, der leicht und schnell um den Pferdeleib geschnallt werden kann und der die Leitfähigkeitsverteilung am Körper registriert.

Daraus resultiert ein dreidimensionales Bild der Lungenfunktion. Zusammen mit einem für Großtiere entwickelten "Ventilator" gelingt im Gesamtergebnis während der gesamten Dauer der Anästhesie eine bessere Sauerstoffversorgung.

Man erhofft sich langfristig von diesen Forschungsergebnissen in Hinsicht auf die Behandlung des extrem übergewichtigen menschlichen Patienten zu profitieren. In diesem Fall dient das Pferd als " physiologisches Vergrößerungsglas" für die spezielle menschliche Patientengruppe.