Jörg Schmiedmayer in seinem Labor am Atominstitut der TU Wien. Dort lässt er Atome zum Takt der Quantenmechanik "tanzen".

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Wenn sich der Vorhang öffnet, spürt er diese Spannung, jedes Mal aufs Neue. Gelingt die Aufführung, oder gelingt sie nicht? Das wisse man vorher nie, sagt Jörg Schmiedmayer. Weder bei den Wiener Philharmonikern noch bei einem Stück von Elfriede Jelinek. Aber doch zieht es ihn, den Physiker, regelmäßig auf die Zuschauerränge. "Ich lasse mich gerne überraschen", sagt er.

Tagsüber schlüpft Jörg Schmiedmayer selbst in die Rolle des Intendanten, in seinem Labor in der Wiener Stadionallee. Die Bühne des Atominstituts der Technischen Universität ist drei Zentimeter breit, sie ruht auf einem Turm aus Kupferstäbchen. Auf diesem "Atomchip" lässt Schmiedmayer eiskalte Atome zum Takt der Quantenmechanik tanzen. Das sei so ähnlich, wie wenn man ein Musikstück komponiert, sagt der gebürtige Wiener: "Wir versuchen, komplettes Neuland zu begehen."

Erfolgreiches Experiment

Dafür hat der Quantenphysiker jüngst einen "ERC Advanced Grant" vom Europäischen Forschungsrat erhalten. Schmiedmayers Gruppe wird fünf Jahre lang gefördert. Für den 52-Jährigen ist es ein wenig wie damals, als er sich 1990 nach der Habilitation an der TU Wien am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bewarb. Beim Vorstellungsgespräch fragte ihn der Professor als Erstes: "Was für ein Experiment würden Sie mit einer Million Dollar verwirklichen?" Schmiedmayer schlug vor, ein einzelnes Atom in einem Interferometer zu beobachten. Er bekam den Job, und nach drei Jahren war sein Experiment erfolgreich.

Nun kann er mit zwei Millionen Euro eine ganze Wolke aus Atomen studieren. Schmiedmayer kann sie dicht über seinem Atomchip schweben lassen. Den Chip hat er im Jahr 2000 erfunden - seitdem nennt ihn mancher "Mr. Atomchip".

In den winzigen Drähten auf der Oberfläche der Apparatur fließen Ströme, die speziell geformte Magnetfelder entstehen lassen. Sie bilden einen unsichtbaren Käfig, der die winzige Wolke gefangen hält. Die Rubidium-Atome darin kondensieren in ein sogenanntes " Bose-Einstein-Kondensat". Es gleicht einem Planschbecken für neugierige Physiker, denn wie kaum ein anderes System eignet es sich, die bizarren Regeln des Mikrokosmos zu studieren.

Das berühmteste Gesetz der Quantenwelt veranschaulicht das Gedankenexperiment von Erwin Schrödingers Katze. Wegen eines teuflischen Mechanismus war das arme Tier zur selben Zeit tot und lebendig. Genauso können speziell präparierte Atome oder Lichtteilchen in einem " Überlagerungszustand" aus mehreren Energieniveaus existieren. Derartige Quanteneigenschaften sind uns fremd, weil Objekte ab einer gewissen Größe plötzlich den "klassischen" Naturgesetzen gehorchen, denen zufolge sich jedes Objekt für einen von mehreren möglichen Zuständen entscheiden muss. Aber wo verläuft diese Grenze? "Irgendwie geht unsere Welt aus der Quantenwelt hervor", sagt Schmiedmayer.

Über die Faszination für den Sternenhimmel ist er als junger Mann zur Physik gekommen. Nach der Diplomarbeit an der TU Wien ging er für kurze Zeit ans Cern. "Aber die großen Gruppen haben mich nach einiger Zeit abgeschreckt", sagt er.

Heute arbeiten etwa 30 Forscher in seinem Team an verschiedenen Experimenten. Mit dem ERC-Grant wollen sie sich nun verstärkt einem Phänomen widmen, über das Physiker bisher nur wenig wissen: "Wir wollen herausfinden, ob man das Nichtgleichgewicht allgemein beschreiben kann", sagt Schmiedmayer. Damit hoffen die Forscher, etwas über die Brücke zwischen Mikro- und Makrokosmos zu lernen.

Studieren lässt sich das Nichtgleichgewicht mit einer speziellen Aufführung in der Wiener Stadionallee: Die Forscher trennen ihr Bose-Einstein-Kondensat in zwei Teile, zwischen denen jedoch nach wie vor eine quantenmechanische Verbindung besteht. "Die beiden Hälften erinnern sich, dass sie aus demselben Bose-Einstein-Kondensat entstanden sind", erläutert Schmiedmayer. Dabei ist das System in einem speziellen Zustand (die Forscher nennen ihn "Quantenkohärenz") - und nicht im thermischen Gleichgewicht. Nach einiger Zeit zerfällt der Zustand, die quantenmechanische Verbindung löst sich auf. "Auf diese Weise kann man den Grenzübergang aus der Quantenwelt in die klassische Welt beobachten" , sagt Schmiedmayer.

Aber dann stießen die Wiener im Jahr 2010 auf eine Überraschung, als sie eine Theorie zweier Forscher aus Harvard überprüfen wollten. "Da gab es eine Sache, die wir überhaupt nicht verstanden haben", sagt er. Die Quantenphysiker hatten ihr Bose-Einstein-Kondensat auf dem Atomchip in zwei Wolken getrennt und diese anschließend miteinander interferieren lassen.

Noch nicht im Gleichgewicht

Kurz bevor sie die Veröffentlichung einreichen wollten, fanden sie etwas Überraschendes: "Die Temperatur des Endzustands war viel kleiner als die Temperatur des Anfangszustands", sagt Schmiedmayer. Die einzige Erklärung: Das System war noch gar nicht im Gleichgewicht, sondern nur in einem Übergangszustand - sonst wäre die Temperatur des Endzustands größer als die des Anfangszustands gewesen. Und noch mehr: Das Quantensystem wies Eigenschaften auf, die von einem Modell vorhergesagt werden, das Heidelberger Theoretiker im Jahr 2004 zur Beschreibung des frühen Universums entwickelt hatten.

Damit wollten die Heidelberger erklären, wie Sekundenbruchteile nach dem Urknall eine extrem heiße Ursuppe aus Quarks und Gluonen ins Gleichgewicht fand. "Damals war es gewagt zu sagen, dass ein extrem kaltes Quantengas Phänomene zeigen kann, die man sonst mit dem Urknall assoziiert", sagt Schmiedmayer. Mittlerweile ist das Ergebnis in Science veröffentlicht worden.

Nun hoffen die Wiener Forscher, mit weiteren Experimenten auf ihren Atomchips eine universelle Beschreibung von Nichtgleichgewichtszuständen zu entwickeln. Als Vorbild dient Schmiedmayers Gruppe ein Erfolg aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Damals gelang es Physikern, eine einheitliche Theorie für Phasenübergänge in Festkörpern zu entwickeln. Sie kann beispielsweise elegant erklären, wieso ein Eisenbarren selbst zum Magneten wird, wenn man ihn einem Magnetfeld aussetzt. Aber der mathematische Formalismus findet auch in der Kosmologie Anwendung. Etwa um zu zeigen, wie sich kurz nach dem Urknall die sogenannte elektroschwache Grundkraft in den uns bekannten Elektromagnetismus und die schwache Kernkraft aufspaltete.

Ob auch das Nichtgleichgewicht solch eine große Rolle beim Verständnis des Kosmos haben wird, weiß noch niemand. So ist das, wenn man Neuland betritt: Mal gelingt die Aufführung, mal gelingt sie nicht. Die Hauptsache sei, neugierig und unvoreingenommen zu bleiben, sagt Jörg Schmiedmayer: "Man muss hören, was die Natur wirklich sagt." (Robert Gast, DER STANDARD, 27.02.2013)