Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: apa/Wolfgang Kumm
Grafik: Der Standard, Quelle: WSJ-Mindestlohndatenbank 2013

STANDARD: Wie entwickeln sich die Mindestlöhne in Europa?

Schulten: In der EU haben 20 von 27 Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn. Das Kernergebnis unseres aktuellen Reports: Die Krise in Europa schlägt sich massiv auf die Mindestlöhne nieder. Vor allem in Ländern, die unter dem Rettungsschirm sind, werden sie eingefroren oder, wie in Griechenland, um fast ein Viertel gekürzt. 14 EU-Staaten haben die Mindestlöhne angehoben, oft fällt das Plus aber niedriger als die Inflation aus. Die Mindestlohnbezieher sind also Opfer dieser Krise.

STANDARD:  Man könnte aber auch sagen: Zumindest in Irland und Portugal scheint der harte Sparkurs auch Früchte zu tragen. Nur Griechenland kommt überhaupt nicht auf die Beine.

Schulten: Das stimmt vielleicht im finanzpolitischen Bereich. Wenn man sich die realwirtschaftlichen Daten, etwa die Arbeitslosenzahlen, ansieht, funktionieren die Programme überhaupt nicht. Im Gegenteil: Die Austeritätspolitik hat einen Teufelskreis ausgelöst.

STANDARD:  Fakt ist aber: In Griechenland sind die Löhne ein Jahrzehnt lang viel zu stark gestiegen. Was ist die Alternative zu den Kürzungen? Irgendwie muss das Land ja wettbewerbsfähig werden.

Schulten: Ich sehe die Lohnkosten nicht so dramatisch. Griechenland hat vor allem ein Strukturproblem. Ohne Infrastruktur und Industrie wird es nicht wettbewerbsfähig. Wenn man, wie jetzt, in allen sozialen Bereichen kürzt und die Inlandsnachfrage abwürgt, frage ich mich: Woraus soll da wirtschaftliche Dynamik entstehen? Jetzt erzeugt man nur unglaubliche soziale Verwerfungen, die ökonomisch nichts bringen.

STANDARD: In Brüssel wird über eine bessere Koordinierung der Lohnpolitik diskutiert. Macht das Sinn? Länder wie Österreich sind da bekanntlich skeptisch.

Schulten: Vom Grundgedanken halte ich bessere Koordinierung für richtig. Man darf nicht nur die vermeintlich zu hohen Lohnabschlüsse im Süden kritisieren, sondern auch die zu niedrigen in Deutschland, wobei auch Österreich da nicht weit entfernt ist. Realistischerweise wird es aber keine harten Vorgaben aus Brüssel geben. Die EU kann aber den europäischen Kontext klarmachen: dass Lohnabschlüsse immer unmittelbare Folgen für andere Länder haben. Was Sinn machen würde: Europäische Mindestlohnstandards, nicht im Sinne absoluter Beträge. Aber man könnte sagen: Ein bestimmter Prozentsatz des Durchschnittslohns darf nicht unterschritten werden.

STANDARD: In Deutschland wird gerade über einen gesetzlichen Mindestlohn diskutiert. Würden dadurch nicht Jobs verlorengehen?

Schulten: Die meisten Studien zeigen, dass gesetzliche Mindestlöhne keine negativen Effekte auf die Beschäftigung haben. Höhere Löhne würden zu einem guten Teil zulasten der Margen gehen. In bestimmten Bereichen käme es auch zu Preiserhöhungen - etwa im Einzelhandel.

STANDARD: Für Wirbel sorgte zuletzt der Umgang von Amazon-Deutschland mit Leiharbeitern. Sehen Sie beim Thema Leiharbeit in der Sache ein großes Problem? Oder entstand die Aufregung nicht nur, weil die Mitarbeiter von einem der rechten Szene nahestehenden Sicherheitsdienst überwacht wurden?

Schulten: Das hat dem zusätzlich eine Spitze gegeben. Aber: Amazon hält sich an keinen Kollektivvertrag. Normale unbefristet Beschäftigte verdienen um 20 Prozent unter Branchenschnitt. Leiharbeiter noch einmal weniger. Darum geht es. Das Kollektivvertragssystem in Deutschland hat derartige Mängel, die Gewerkschaft ist zu schwach. Deshalb braucht es klare gesetzliche Regelungen. Sie müssen so hart sein, dass es keinen Anreiz gibt, Festangestellte systematisch durch Leiharbeiter auszutauschen. Wir haben große Automobilkonzerne, wo 20 bis 30 Prozent der Belegschaft Leiharbeiter sind.

STANDARD: Hielten Sie auch für Österreich, wo fast alle in einem KV sind, einen gesetzlichen Mindestlohn für sinnvoll?

Schulten: Österreich ist mit seiner extrem hohen KV-Bindung fast schon ein internationaler Exotenfall. Die Vorgangsweise der Gewerkschaft, sich normative Ziele - etwa 1500 Bruttolohn - zu setzen, halte ich in Österreich für angemessen.

STANDARD: Per Gesetz ginge es aber schneller.

Schulten: Stimmt. Das ist aber auch nicht risikofrei. In Krisenzeiten kann ein Gesetz genutzt werden, um die Löhne einzufrieren oder zu senken - wie Südeuropa zeigt. In Deutschland ist die Lage anders: Hier ist die Erosion in vielen Bereichen so stark, dass man nicht mit kollektivvertraglichen Erhöhungen rechnen kann. (Günther Oswald, DER STANDARD, 1.3.2013)