Die #Aufschrei-Kampagne auf Twitter hat geschafft, was herkömmlichem feministischen Protest seit Jahrzehnten nicht mehr gelingt: frauenpolitische Themen in Mainstream-Medien unterzubringen. Doch ist es für die feministische Sache überhaupt so wichtig, in den Medien vorzukommen? Und was hat die Debatte über sexuelle Belästigung überhaupt in den Büros und Redaktionen bewirkt? dieStandard.at hat die freie Printjournalistin Sibylle Hamann und die "Wienerin"-Chefredakteurin und Twitteratin Sylvia M. Steinitz getroffen, um über Feminismus im Netz zu debattieren.

dieStandard.at: Sechs Wochen nach dem #Aufschrei – wie schätzen Sie die Wirkung dieser Aktion in den Redaktionen ein?

Hamann: Sie hat schon gewirkt. Wenn man "sexuelle Belästigung" in den letzten Jahrzehnten als Thema vorgeschlagen hat, wurde man ja eher belächelt, das ist mir auch selber passiert. Diese Leute haben gemerkt, dass sich an Alltagssexismus nicht nur ausgewiesene Feministinnen stören, sondern auch ganz viele Frauen, die sich niemals als solche bezeichnet hätten. Viele Frauen sind also Feministinnen, ohne dass sie sich so genannt hätten.

dieStandard.at: Haben Sie sich am #Aufschrei eigentlich persönlich beteiligt?

Steinitz: Ja, und ich habe das ganz bewusst getan, weil ich gemerkt habe, dass sich Frauen in leitenden Positionen gescheut haben, hier etwas preiszugeben. Eine hat auf Twitter geschrieben, dass sie zu feige ist, hier ihre Erfahrungen offenzulegen. Den Tweet fand ich völlig in Ordnung. Ich dachte mir aber: Wenn wir es nicht machen, wie können wir dann eigentlich von anderen erwarten, dass sie sich wehren?

dieStandard.at: Frau Hamann, Sie sind ja nicht auf Twitter. Wie haben Sie von #Aufschrei erfahren?

Hamann: Das war sehr lustig: über Arbeitsanfragen. Alle wollten plötzlich "ganz dringend" etwas über sexuelle Belästigung. Da frage ich natürlich schon erst patzig zurück: warum so dringend, gerade jetzt? Aber es war dann doch gut, darüber zu schreiben, an eigene Erfahrungen zu denken, darüber zu reden. Man hat sich dabei gut aufgehoben gefühlt.

Sibylle Hamann (li.)und Sylvia M. Steinitz zu Gast bei dieStandard.at
Foto: diestandard.at/Maria von Usslar

dieStandard.at: Wie beurteilen Sie die mediale Debatte zum #Aufschrei? Hat sie im Mainstream auch neue Sexismen produziert?

Hamann: Noch nie haben Leute wie "Krone"-Kolumnist Michael Jeannée so alt ausgesehen. Die waren bisher Mainstream. Bei diesen Diskussionen hat man aber gemerkt: Burschen, es ist vorbei.

Steinitz: Die letzte Domäne des politisch unkorrekten Menschen war ja der Frauenhass, und das bröckelt jetzt. Daher kommt auch diese Aggression und die Wut, die einer gerade online so oft entgegenschlägt bei Frauenthemen. Die blamable Erkenntnis der #Aufschrei-Debatte war ja, dass wir als das "europäische Kulturzentrum" so hinterher sind. Die USA haben sich bei der Debatte gefragt: In welchem Zeitalter leben die eigentlich?

dieStandard.at: Femen und #Aufschrei waren die erfolgreichsten feministischen Kampagnen der letzten Jahre. Die eine funktioniert über "Oben ohne", die andere über persönliche "Geständnisse". Können Feministinnen aktuell nur über Entblößung Gehör finden?

Steinitz: Die Regeln des Medienmarktes sagen, dass man auffallen muss. Wenn nicht etwas passiert, was außerhalb der Norm ist, kommt keiner. Sehr deutlich haben das die Piratinnen in Deutschland letzten Herbst mit ihrer Aktion "Tits for Human Rights" gezeigt. Plötzlich war die "Bild" da, die Fernsehstationen waren da. Die Piratinnen haben sich letztlich nicht ausgezogen, sondern haben gesagt: Seht ihr, jetzt seid ihr alle da. Hätten wir unsere Themen anders besprechen wollen, wäre keiner aufgetaucht.

Bei Femen weiß ich bis heute nicht, was ich davon halten soll. Ich bin mir nicht sicher, ob das auf Dauer der richtige Weg ist. Die Erfahrung zeigt, wenn du in einer Schublade bist, kommst du nicht mehr heraus.

Hamann: Die Femen-Bilder werden tatsächlich immer gerne gezeigt. Nur: Wofür man sich ausgezogen hat, steht nicht dabei. Ich bin auch sehr gespalten. Einerseits finde ich das sehr selbstbewusst, wie sie sich den öffentlichen Raum mit Nacktheit erobern. Aber solange sich nur die Schönen ausziehen, habe ich ein Problem.

dieStandard.at: Es braucht also einen zusätzlichen Kitzel, eine Art von Entblößung, um über feministische Themen berichten zu können?

Steinitz: Ich denke, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das anders zu machen. Jetzt sind die Leute sensibilisiert. Das hat man auch nach dem entsetzlichen Fall in Indien gemerkt: Plötzlich wird viel mehr über Vergewaltigungen in den Medien gebracht. Wir haben jetzt noch ein paar Wochen, dann kommt wieder ein anderes Thema – dann kommt der Papst.

Hamann: Die Frage, worüber und ob über Feminismus berichtet wird, halte ich nicht für zentral. Es geht doch darum, wie viel Feminismus sich im Alltag durchsetzt, wie viel jeden Tag in die Schulen, in die Behörden, in die Familien sickert. Auch für Indien ist die entscheidende Frage nicht, was und wie viel darüber in den Zeitungen steht, sondern: Wie geht es den Frauen in den Dörfern, die vergewaltigt wurden, die ihren Mann verlassen wollen – bekommen die Unterstützung oder nicht?

Steinitz: Und da müssen wir auch nicht nach Indien schauen. Ich war auf einem "Hinichen"-Konzert und habe dort mit einer Frau am Klo über Alltagssexismus diskutiert. Sie sagte zu mir: "Sie glauben wohl, Sie sind was Besseres", und ich habe erst später verstanden, was sie meinte: dass ich meine, so etwas nicht tagtäglich aushalten zu müssen. Sie hat aber in ihrem Alltag gar keine Chance, dem zu entkommen. Diese Frauen ignorieren es entweder oder schieben blöde Sprüche zurück, aber sich dagegen aufzulehnen, das würde ihnen viel zu viele Probleme machen, und sie hätten auch keinen Beistand. Dieser Satz hat mich sehr getroffen. Wir haben auch in Österreich einen großen Riss quer durch die Frauen.

Hamann: Deshalb finde ich die Frage "Findet Feminismus nur noch im Netz statt?" seltsam. Was Feminismus in der Twitter-Blase tut oder nicht tut, ist relativ egal im Vergleich zu dem, was Feminismus im Leben und unser aller Alltag bedeutet. Denn es ist genau die Front, am Klo am "Hinichen"-Konzert, um die es geht.

dieStandard.at: Nochmals zurück zu den Medien: Durch die sozialen Netzwerke entscheiden nicht mehr nur professionelle Medienleute, was wichtig ist. Ist das eine positive oder eine negative Entwicklung?

Steinitz: Es erhöht einfach die Summe der Beteiligten, und zwar sprunghaft. Aktionsgruppen gab es aber immer schon. Ich sehe das positiv und negativ – bei Postings zum Beispiel. In Wahrheit machen die Leute im Netz nichts anderes als am Stammtisch: Sie teilen ihre Meinung mit. Meine Theorie ist: Wir haben in unserer Gesellschaft noch immer das Gefühl, dass eine öffentlich getätigte Meinung in Blogs oder Foren eine gewisse Relevanz hat. Wir haben alle noch nicht gelernt, damit umzugehen. Ich weiß, Postings können öffentliche Meinung beeinflussen. Aber ich lese sie inzwischen kaum noch, ich mag nicht mehr. Ich glaube, da bin ich eine Durchschnittsbürgerin. Irgendwann werden wir gelernt haben, dieser Meinungsflut nicht mehr automatisch Bedeutung beizumessen.

Steinitz: "Der Meinungsflut nicht mehr automatisch Bedeutung beimessen".
Foto: diestandard.at/Maria von Usslar

Hamann: Es ist ein Problem zu glauben, dass das Liken das Machen ersetzt. Wenn die iranische Revolution auf Facebook jemand likt, hat das noch keinem Menschen auf der Welt geholfen, es hat nur dazu beigetragen, dass man sich gut fühlt. Das stößt mich eher ab, muss ich sagen.

dieStandard.at: Wenn die sozialen Medien mitunter gar nicht so relevant sind, wo findet dann politische Öffentlichkeit in Zukunft statt?

Steinitz: Das ist dieser spannende Knackpunkt, den wir erreicht haben. Ich denke, die Medien müssen ihre Autorität wiedererlangen: sortieren, hinterfragen, recherchieren, und dann das bringen, was tatsächlich Fakt ist.

Was Medien aufgeben müssen, ist ihre Hauptrolle in der Dissemination von Information. Wenn auf Twitter irgendeine Geschichte startet und die Medien darüber berichten, was auf Twitter gewesen ist, dann wird das irgendwann einmal nach hinten losgehen.

Hamann: Das ist der entscheidende Punkt für mich. Dieses Im-Kreis-Schicken von Informationen über hundert Kanäle, das geht mir unglaublich auf die Nerven. Die einzige Chance, die Medien haben, ist, wieder ganz konkrete Geschichten zu erzählen von konkreten Menschen da draußen auf der Straße, und sich nicht darauf zu verlassen, was irgendwo gepostet wurde. Ich fühle mich jedes Mal befreit, wenn ich draußen war, eine Reportage gemacht habe von ganz konkretem Leben. Das ist immer neu, immer anders und immer unerwartbar, gerade in Bezug auf Frauenalltag und Frauenleben. Da liegt die Chance von Medien, neue Geschichten zu erzählen.

Sibylle Hamann ist überzeugt, dass der Aktivismus "erst im realen Leben" beginnt.
Foto: diestandard.at/Maria von Usslar

dieStandard.at: Wie lautet Ihr Resümee aus unserer Diskussion: Findet Feminismus nur mehr im Netz statt?

Steinitz: Die Dinge beginnen im Netz, aber die Leute treffen sich draußen.

Hamann: Nein, die Sachen beginnen auch nicht im Netz. Sie beginnen im Leben.

Steinitz: Wenn wir ein konkretes Beispiel hernehmen, zum Beispiel die Tahrir-Bodyguards: Das begann mit einem ganz konkreten Problem, mit sexueller Belästigung am Tahrir-Platz. Eine sagte dann, so kann das nicht weitergehen, wir brauchen eine Bodyguard-Schutztruppe, und die hat sie dann auf Twitter gegründet. Die Aktion wird also im Netz gegründet und dann hinausgetragen.

Hamann: Und die Lösung beginnt doch auch erst im realen Leben! Denn wenn die Gruppe gegründet wurde, aber dann niemand dort steht, war das Ganze für nix.

dieStandard.at: Frau Steinitz, Sie werden weiterhin auf Twitter aktiv sein, oder?

Steinitz: Oh ja. Twitter ersetzt für mich die Tageszeitungen. Und ich erfahre von Aktionen wie #Aufschrei sehr schnell. Und dazwischen wird dann auch geblödelt, warum nicht? Ich habe auch tolle Leute auf Twitter getroffen, die hätte ich sonst nicht kennengelernt. Ich habe beruflich und auch feministisch wahnsinnig viel Information aus Twitter gezogen.

dieStandard.at: Frau Hamann, lockt Sie das nicht auf Twitter?

Hamann: Ich finde das alles total spannend. Aber ich muss nicht alles machen. Als arbeitende Frau habe ich den Punkt erreicht, an dem ich es mir leiste, nicht überall dabei zu sein. Es ist sicher richtig, dass ich vieles langsamer erfahre als andere. Ich kriege auch nicht alles mit, was manchmal auch ein Vorteil ist. So hat man Zeit, andere Dinge mitzukriegen, die nicht schon unter hunderttausenden Leuten kursiert sind. Ich bin immer wieder überrascht, was man alles finden kann und auf was man stößt, wenn man es nicht gesucht hat. (Ina Freudenschuß/Beate Hausbichler, dieStandard.at, 8.3.2013)