Bestseller-Autor Edmund de Waal: "Ich stoße auf Interesse und Engagement, wenn ich die Geschichte meiner Wiener Familie erzähle."

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Im Wiener Palais Epstein hielt der englische Keramiker und Schriftsteller Edmund de Waal am Mittwochabend eine Rede über die Folgen des "Anschlusses" Österreichs an das Deutsche Reich für seine Familie.

STANDARD: Was hat Ihnen "Anschluss" gesagt, bevor Sie mit den Recherchen zu Ihrem Buch "Der Hase mit den Bernsteinaugen" begannen?

Edmund de Waal: Ich kannte nur die allgemeinsten Tatsachen aus den Geschichtsbüchern. Für mich war er ein weiterer furchtbarer Tatbestand der Jahre 1938/39.

STANDARD: Er war also kein Thema am Familientisch?

De Waal: Oh Gott, nein! Ich meine, wir vermieden das Thema nicht, aber es war nicht Teil unserer Konversation, schon gar nicht als entscheidender Zeitpunkt radikaler Veränderungen in unserer Familie. Dass sich das mit meinen Nachforschungen änderte, das ist der ironische Kern der ganzen Sache.

STANDARD: Und wie blicken Sie nun auf Österreich, als Ergebnis Ihrer Recherchen?

De Waal: Der Schock, entdeckt zu haben, was sich in jenen Wochen abspielte, wurde immens verstärkt durch das Wissen, wie tiefgreifend sich eine bestimmte Familie, die Ephrussis, dadurch neu selbst verstehen musste - als Wiener. Wenn ich das nicht untersucht und verstanden hätte, dann wäre der Anschluss zwar immer noch ein einschneidendes Erlebnis gewesen, aber ich hätte nicht seine transformative Gewalt verstanden.

STANDARD: Was haben Sie - analog zu Ihrer Lektüre von Roth, Schnitzler und anderen zum Verständnis der Ereignisse um den Ersten Weltkrieg - gelesen, um 1938 besser zu verstehen?

De Waal: Ich habe mir so viele Memoiren wie möglich angeschaut - Stefan Zweig natürlich und andere. Viele von ihnen sind Rückblicke von Überlebenden, und die sind manchmal sehr unmittelbar, manchmal hingegen sehr indirekt.

STANDARD: Viele haben wohl auch die Ereignisse verdrängt oder verschwiegen.

De Waal: Eigentlich fast alle. Das rührt ans Herz der Ereignisse. In tausenden Familien wurde nichts weitergegeben und alles vermieden, was daran rühren hätte können. In der Perspektive der jüdischen Diaspora oder auch der Wiener, die geblieben sind, lässt sich immer ein großes Schweigen spüren.

STANDARD: Welche Personen oder Institutionen fanden Sie hilfreich bei Ihren Recherchen ab 2005?

De Waal: Sicherlich mal die Leute der Israelitischen Kultusgemeinde und Sophie Lillie. Dann auch mehrere Mitarbeiter anlässlich einer Ausstellung über Arisierung und Restitution; und diverse Kunsthistoriker in London, New York und anderswo, oft Wiener – es ist ja erstaunlich, an wie vielen Orten der Welt man ihnen begegnet. Feindseligkeit habe ich nirgendwo gespürt. Ich empfinde übrigens die Stadt Wien nicht so sehr als einen geographischen Ort, vielmehr als eine weit verstreute Idee, einen großen Versuch, mit und in vielen Kulturen zu leben.

STANDARD: Im Guten wie im Schlechten.

De Waal: Ja, das Kraus'sche Diktum von der Versuchsstation des Weltuntergangs passt leider wirklich.

STANDARD: Haben Sie, seit Sie Ihre Forschungen angestellt und dann das Buch im Herbst 2011 im Palais Ihrer Großeltern präsentiert haben, Wien bzw. Paris wieder besucht?

De Waal: Schon. Aber Sie können sich vorstellen, dass das sehr merkwürdige Jahre für mich waren.

STANDARD: Sie meinen, dass Sie seither zum Star geworden sind?

De Waal: Naja, Star, ich weiß nicht. Jedenfalls wurde ich zu einer öffentlichen Figur, was ich nicht wirklich wollte. Um es höflich auszudrücken: Es war eine komplizierte Zeit. Aber es war natürlich schon auch eine außergewöhnlich gute Erfahrung, dass man die eigene, auseinander gerissene Familie wieder sozusagen zusammennähen kann. Also, um Ihre Frage zu beantworten, ich war wieder in Wien, aber nicht, um in dieser Richtung weiter zu arbeiten, sondern nur privat. Auch in Paris. Ich war vor allem damit beschäftigt, mein normales Leben wieder in den Griff zu bekommen, als Künstler und Autor. Etwas zu schaffen, als Keramiker, das hat für mich Vorrang. Ich schreibe gerade an einem Buch über Porzellan, das macht mir Vergnügen, und das wird sicherlich kaum jemand lesen.

STANDARD: Das weiß man nie. Was mir in Ihrem Buch aufgefallen ist, wenn Sie über Ihre Vorfahren in Wien und in Paris schreiben: dass Sie sie nicht sehr schmeichelhaft schildern, vielmehr als Neureiche, ungehobelte Parvenüs, als Bürger, die den Zuzug galizischer Juden (nach Wien) gar nicht gerne gesehen haben.

De Waal: Es ist jedenfalls nicht schwarz und weiß. Einerseits waren sie ja wirklich nouveaux riches, sehr vulgär. Natürlich waren sie das. Aber das sagt auch etwas aus – und so lese ich sie, nicht als Typen, sondern als Menschen; denn sie waren ja nicht nur Klischees: Sie waren eine Familie, und all dieses Prahlen, der ganze Marmor sollten sagen: Wir sind keine Wandering Jews, wir sind nicht unterwegs, sondern wir bleiben hier.

STANDARD: Das glaubten sie wenigstens.

De Waal: Und die Ironie war ja, dass dieses Einleben als Wiener und als Juden, dieses Abstecken des Territoriums eigentlich Zeichen einer Flüchtlingskultur sind. Bei den Ephrussis hat es von der Einwanderung bis zur Flucht nur eineinhalb Generation gedauert.

STANDARD: Wenn man auf 1938 ohne den klügeren Blick des Nachgeborenen schaut - so wie es Philipp Blom in Der taumelnde Kontinent über Europa vor 1914 getan hat -, ließe sich dann der Anschluss anders verstehen, als er heute gesehen wird?

De Waal: Wenn man die Jahrzehnte davor betrachtet, dann bemerkt man natürlich die Umstände, die 1938 möglich gemacht haben. Aber dass der Anschluss so eine gewalttätige Dimension annahm und nicht einfach ein politischer Übergang war, dass er diese alles verändernde Gewalt hatte, das war schon das absolut Außergewöhnliche. Sie wurde nicht nur von innen heraus, von der Stadt oder dem Land selbst, aber auch nicht zur Gänze von außen initiiert. Als diese beiden Elemente damals zusammenkamen, führte das zu Aktionen, die unglaubliche Konsequenzen hatte. Eine Stadt wandte sich gegen sich selbst und verweigerte ihren eigenen Bürgern die Grundrechte eines Bürgers. Es ist nicht leicht, für solche Ereignisse Parallelen zu finden.

STANDARD: Man kann von einem angeborenen Vernichtungswillen sprechen, wie ihn Daniel Goldhagen bei den Deutschen ortet - der aber von vielen anderen Forschern dafür scharf kritisiert wurde. Gibt es Ihrer Ansicht nach überhaupt eine nuancierte Historiografie zu den Ereignissen von 1938 und danach?

De Waal: Ich denke, man sollte davon ausgehen, dass die verschiedenen Aspekte - die vernichtende Gewalt, aber auch die Ängste der Zeitgenossen, der lange Wunsch nach Anschluss, der ja keine reine Nazi-Idee war ...

STANDARD: Manche sozialdemokratischen Führer waren ja auch dafür, sogar noch nach 1933.

De Waal: ... eben, dass also alle diese Aspekte koexistierten und man sie gemeinsam sehen sollte.

STANDARD: Worauf wollten Sie mit Ihrer Rede "Bringing Memory Back Home" gestern im Palais Epstein vor allem aufmerksam machen?

De Waal: Auf zwei Aspekte. Zum einen auf das Schweigen über Generationen, das die Vertriebenen befallen hatte. Ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, die Geschichte meiner Familie niederzuschreiben, wenn mein Vater nicht so konsequent über die Ereignisse geschwiegen hätte. Ich wollte verstehe, was dieses kollektive Phänomen in der Diaspora bedeutet. Zum anderen wollte ich klarmachen, was Restitution eigentlich bedeutet. Für mich geht es in diesem Akt nicht so sehr um die Rückgabe von Bankkonten, Bilder und anderem Besitz, der geraubt wurde. Es ist vielmehr eine Aktivität, die die Geschichten jüdischer Wiener Familien nach Wien zurückbringt.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass diese Form der Rückgabe in Wien passiert?

De Waal: Doch, das denke ich. Ich glaube, da herrscht jetzt ein anderes Gefühl in der Stadt. Die größte Feindseligkeit habe ich interessanterweise in Amerika gespürt. Es gibt viele Leute, übrigens auch in meiner Familie, die nie nach Wien zurückkehren oder die Stadt auch nur besuchen würden. Aber meine Erfahrung war, dass ich hier auf Interesse und Engagement gestoßen bin, wenn ich die Geschichte meiner Wiener Familie erzählt habe. Jedenfalls komme ich nicht als Bittsteller nach Wien. Das eigentliche Thema für mich ist vielmehr, was Wien alles verloren hatte, als es sich nicht für die Geschichten der Diaspora öffnete. Wenn man diese Storys nach Wien zurückbringen, restituieren kann, dann bekommt man Kontrolle über sie und wartet nicht auf Dinge, die man zurückbekommen könnte - oder auch nicht. (Michael Freund, DER STANDARD, Langfassung, 14.3.2013)