Doris Knecht, "Besser". Roman, Originalausgabe. € 20,60 / 288 Seiten. Rowohlt-Verlag. Erstverkaufstag: 8. März 2013

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Die Vergangenheit riecht nach Schweiß und trägt jetzt eine Brille, die für ihr Gesicht zu klein ist. Das Gesicht ist schlecht rasiert und deutlich mehr geworden, die Wangen sind fleischig jetzt, das Kinn ufert aus. Die Vergangenheit hat sich verändert; was früher scharf war, ist nun schwammig, was einmal blond strahlte, ist stumpf und grau jetzt, wo früher Lücken klafften, sind jetzt Zähne, gelb, aber da, nur die Narbe rechts vom Kehlkopf sieht noch genauso aus wie früher.

Die Vergangenheit ist fahrig und nervös, dann wird sie ungut, dann geht sie grußlos. Du sitzt hinter deinem Caffè Latte und schaust ihr zu, wie sie mit einem Ruck aufsteht, wie ihr Stuhl zornig zurückzuckt und irgendwie verdreht stehenbleibt, zufällig und falsch, wie eine verrenkte Katze auf der Fahrbahn. Oder wie der Hund, der einmal auf dem Bürgersteig tot umfiel, als du gerade mit den Kindern in der Straßenbahn vorbeifuhrst.

Der Hund kippte einfach nach rechts, hing noch an der Leine, eindeutig tot, und du erinnerst dich daran, wie sein Frauchen neben dem toten Hund stand und verständnislos auf ihn hinuntersah und dann über die Straße und dann wieder auf den Hund, du erinnerst dich an die vollkommene Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht, an all das erinnerst du dich, während du versuchst, das Zittern zu unterdrücken, das schon die ganze Zeit durch deinen Körper rast, während du zuschaust, wie die Vergangenheit in verwaschenen, weiten, schlecht sitzenden Jeans und in einem billigen schwarzen Nylon-Blouson aus dem Kaffeehaus marschiert, ohne zu bezahlen. Ohne sich umzusehen.

Die Vergangenheit fährt sich heftig mit der Hand in die wenigen, schlecht geschnittenen Haare und stößt die Drehtür auf und wird auf die Straße hinausgekotzt, und dann geht sie am Fenster vorbei, den Blick entschlossen in eine Ferne gerichtet, in der du nicht bist.

In der dein Anblick nicht stört und deine Worte niemanden wütend machen. Es ist merkwürdig. Ungerecht. Du hast die Vergangenheit nicht gerufen, du wolltest sie nicht in deiner Gegenwart, du bist ihr immer ausgewichen, hast dich vor ihr versteckt in deinem neuen Leben. Dann stiegst du in ein Taxi, und da saß sie, die Vergangenheit, auf dem Fahrersitz.

Du hast sie erst nicht erkannt, so von hinten, aber sie sah dich im Rückspiegel und erkannte dich, trotz deiner Haare, trotz deiner Nase. Und jetzt, wo sie sich gezeigt hat, durch einen Zufall, wo du ihr begegnet bist und dich, nur für ein paar Minuten, nur einen Kaffee lang, auf sie eingelassen hast, ist sie mit einem Mal so präsent, dass es dir die Brust eng macht. Du willst den Kragen aufreißen, der dich würgt, aber du trägst ja einen leichten, lockeren Pullover mit Wasserfall-Ausschnitt, und du spürst, wie dein Atmen zu wenig Luft in deine Lunge pumpt, zu wenig, zu wenig. Es macht dich nervös, dann macht es dich panisch. Luft. Viel mehr Luft. Du willst dich jetzt beruhigen. Es ist nichts passiert, gar nichts passiert, alles ist total okay. Einfach atmen, langsam weiteratmen. Es war alles in Ordnung bisher, und es wird weiter in Ordnung sein.

Nichts ist passiert

Er ist weg. Er weiß nicht, wo du wohnst, du hast ihm nichts erzählt. Tief durchatmen, so sagt man doch, tief in den Bauch hinein. Es war ja überhaupt nichts. Du hast die Vergangenheit getroffen, zufällig, jetzt ist sie wieder weg, und du machst einfach ganz normal mit der Gegenwart weiter. Nichts ist passiert. Nichts hat sich verändert. Es ist alles okay, alles okay.

Du zündest dir eine Zigarette an, inhalierst in deinen viel zu kleinen Brustkorb, in deine winzige Lunge, im Blick das Fenster, durch das du eben noch die Vergangenheit gesehen hast. Sie könnte zurückkommen. Sie kommt nicht zurück, das Fenster füllt und leert sich mit Männern und Frauen und Kindern, die nichts mit dir zu tun haben. Du rauchst und starrst, das Fenster bleibt unberührt von dem Bild, das du fürchtest.

Du ziehst, drückst deine Zigarette aus, ihr ungerauchter Rest krümmt sich im Aschenbecher. Du stehst jetzt auf, schiebst deinen Stuhl zurück, lässt deine Zigaretten auf dem Tisch liegen und das Feuerzeug, du packst deine Tasche, du gehst an den Tischen vorbei, und schau, niemand blickt hoch. Es ist alles ganz normal. Alles an dir ist ganz normal. Niemandem fällt etwas auf, alle Gesten, Gespräche, Geräusche unverdorben von dir oder deiner Anwesenheit. Du steigst vorsichtig die teppichbelegte, geschwungene Treppe hinunter, der Handlauf aus Messing kommt dir gelegen, es ist gut, dass du dich jetzt festhalten kannst. Unten zwei Türen, du gehst nach links in die Damentoilette. Es ist still, du bist allein, niemand steht an den Waschbecken, alle drei Kabinen klaffen offen.

Das bist du

Deine Schritte hallen zu laut, als du zum großen Spiegel gehst und davor stehenbleibst. Ein neonbeleuchteter, ovaler Ausschnitt aus dem Hier und Jetzt, mit dir im Zentrum. Mit dir.

Du. Das bist du. Und du siehst noch genauso aus wie vorher, du siehst gut aus, dein Lippenstift hat die richtige Farbe, nicht zu grell und nicht zu feig, deine kurzen Haare liegen heute genau richtig. Deine Hüften sind breiter jetzt, aber das hat die Vergangenheit nicht gesehen, die Vergangenheit hat nur dein Gesicht gesehen, dein neues Gesicht, deine neue Nase, deine neuen, blonden Haare über deinen neuen Augen, in denen jetzt wieder Leben ist, dein neues Leben, deine Augen, die heute mehr grün als braun glänzen. Und deine Brust, die endlich wieder weiter ist und mehr Atem einlässt. Und aus. Und ein.

Du stützt dich aufs Waschbecken, es ist niedrig und beugt dir den Rücken, deine Haare fallen dir in die Augen, du streifst sie zurück hinter deine Ohren. So siehst du jetzt aus, so hat die Vergangenheit dich erwischt, so hat sie dich gesehen. Es ist in einem guten Moment passiert. Du bist es noch, das bist noch du, der Blick, den die Vergangenheit auf dich richtete, hat dich nicht verändert, nicht verletzt. Er konnte dir nichts anhaben.

Diesmal nicht, nicht mehr, nie mehr. Du bist noch dieselbe, du bist immer noch die, die du geworden bist, durch deinen Willen und deine Kraft geworden bist. Die Vergangenheit hat keine Macht mehr über dich, ihr Blick und ihr Wille prallen ab an dir. Sie kennt deinen neuen Namen nicht. Geh nach Hause, es ist alles ganz normal, es ist alles gut, es ist alles besser, man sieht nichts, niemand sieht etwas.   (Doris Knecht, Album, DER STANDARD, 9./10.2.2013)