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Der Übersetzer übersetzt Sätze. Er übersetzt keine einzelnen Wörter, arbeitet nicht Wort für Wort. Er übersetzt Texte.

Foto: Corbis

Auf der Leipziger Buchmesse (14. bis 17. März), die sich als literarischer Brückenbauer zwischen Ost und West sowie als großangelegtes Lesefest für das Publikum versteht, wird kommenden Donnerstag der renommierte Preis der Buchmesse vergeben. Und zwar in den Bereichen Belletristik, Sachbuch – sowie in der zu wenig beachteten und zuweilen auch von den Feuilletons stiefmütterlich behandelten Sparte der literarischen Übersetzung.

Letzteres war ausschlaggebend dafür, diese Titelgeschichte fünf Übersetzern zu widmen. Vier setzen sich in Texten mit ihrer Arbeit auseinander, einer gab uns in einem Gespräch Auskunft über den langjährigen Streit der Übersetzer mit den Verlagen und das unterschiedliche Kommunikationsverhalten russischer Autoren.

Wodka und Kalaschnikow

Andreas Tretner im Gespräch

Man müsse schon, und darin sei man Autoren besonders nah, für seine Sache brennen, sagt Andreas Tretner: "In diesem Punkt ist man Künstler." Die "Sache", das ist in Tretners Fall seit 1991 das literarische Übersetzen. Damals kündigte der 1959 geborene Thüringer, der Anfang der 1980er-Jahre in Leipzig sein Diplom als Dolmetscher und Übersetzer aus dem Russischen und Bulgarischen ablegte, eine sichere Stelle als Lektor für slawische Literaturen beim Reclam-Verlag. Seither hat er freischaffend aus dem Tschechischen, Bulgarischen und vor allem aus dem Russischen übersetzt. Fast alle Romane von Wladimir Sorokin, Wiktor Pelewin und Michail Schischkin tragen unter ihrer Titelzeile den Vermerk "aus dem Russischen von Andreas Tretner", was einem Gütezeichen gleichkommt, das dem Übersetzer diverse Preise und jetzt die Nominierung in der Kategorie "Übersetzung" für den Preis der Leipziger Buchmesse eingebracht hat. Doch vom Ruhm allein lebt man nicht.

Acht bis neun Monate, und das auch nur, wenn er ungestört arbeiten kann, benötigt Tretner für die Übersetzung eines "schwierigen" 600-Seiten-Romans wie beispielsweise Schischkins Venushaar. Das Honorar dafür beträgt insgesamt 15.000 Euro. Tretner: "Das ist nicht viel, wenn man eine Familie zu ernähren hat." Dass vor wenigen Tagen wieder einmal die Verhandlungen zwischen dem Verband deutschsprachiger Übersetzer und den Verlagen vertagt wurden – es geht unter anderem um die Verwertung von Nebenrechten für Taschen- oder Hörbücher, an denen Übersetzer bisher nichts verdienen -, "ärgert, stört und nervt" Tretner, vor allem aber beeinträchtigt es ihn in seiner Arbeit. Denn "es braucht", so Tretner, "mit den Verlagen ein gutes vertrauliches Arbeitsverhältnis, damit man gute Bücher machen kann. Die Verlage aber spielen trickreich seit zwölf Jahren auf Zeit, und jedes Jahr, das sie dabei gewinnen, ist für sie pures Geld."

Mittlerweile würden viele Menschen in prekären Situationen leben, so Tretner, der ungern über diese strukturellen Rahmenbedingungen des Übersetzens redet. Viel mehr interessieren ihn literarische Vermittlungsprobleme. Es sei schon merkwürdig, wie stereotyp die Erwartungen seien, die an die russische Literatur, wie an russische Politik übrigens auch, herangetragen werden. Man wundere sich über alles, was nicht dem Klischee "russische Seele, Wodka und Kalaschnikow" entspreche.

Natürlich finde sich das, was Tretner den "ontologischen Furor" der russischen Literatur nennt, also eine große Bereitschaft, sich mit den letzten Dingen und emphatisch mit Gott und der Welt auseinanderzusetzen, auch bei Autoren wie Schischkin. Andererseits verfüge dieser Autor gleichzeitig über das gesamte Arsenal moderner literarischer Techniken, was auch bei deutschen Lesern langsam ankomme.

Die Frage, ob es auch jüngere russische Schriftsteller zu entdecken gebe (die oben genannten sind alle in ihren Fünfzigern), bejaht Tretner und verweist auf ein deutlich anderes Kommunikationsverhalten russischer Autoren. Vieles spiele sich im Internet ab, wohl auch, weil in der Sowjetunion die Samisdat (Selbstverlag, Anm.)-Kultur sehr verbreitet war und es die Menschen daher gewohnt seien, Texte auch in urheberrechtlichen "Grauzonen" auszutauschen und verfügbar zu machen. "Eigentlich", sagt Tretner, "bloggt in Russland jeder Autor." In Russland sei daher literarisch viel mehr los, als Agenten wahrnehmen wollen – und leider auch die Übersetzer, die aus den erwähnten ökonomischen Gründen als Entdecker literarischen Neulands nur eingeschränkt wirksam werden können.

Andreas Tretner (54) lebt als Übersetzer in Berlin. Der Text beruht auf einem Telefongespräch, das Stefan Gmünder protokollierte.

Den richtigen Ton finden

Von Leopold Federmair

In letzter Zeit werden meine Übersetzungen öfter kritisiert als früher. Kritik muss man aushalten, man muss sie aber auch brauchen können. Ehrgeizige Personen weisen darauf hin, dass dies und jenes nicht korrekt sei. Sie vergleichen den übersetzten Text an einer oder zwei Stellen mit dem Original und stellen fest, dass "das gar nicht so heißt". Zum Beispiel soll ein "camembert bien fait" ein "zerfließender" Camembert sein und kein "reifer", und "reprise" soll "Reprise" heißen und nicht "Wiederaufnahme" oder "Wiederholung". Derlei Kritik erfolgt in der Regel nur bei Übersetzungen aus sogenannten großen Sprachen, nicht aber, wenn das Original finnisch oder japanisch ist. Aus offensichtlichen Gründen.

Kritik ist notwendig, bei einem übersetzten Manuskript noch mehr als bei einem originalen. Warum das? Weil sich gelungene Formulierungen beim freien Schreiben oft aus dem Rhythmus, der Textdynamik, der Inspiration ergeben. Der Autor weiß nicht, warum er einen bestimmten Ausdruck gebraucht hat; er weiß nur, dass er "stimmt".

Ein Übersetzer kann sich niemals im selben Maß der Inspiration überlassen. Die kritische Instanz in ihm ist zwangsläufig ausgeprägter als beim freien Autor. Lese ich Übersetzungen mit einem kritischen Auge, glaube ich ohne Vergleich mit dem Original zu merken, wenn an einer Stelle etwas nicht stimmt. Geht man der Sache nach, stößt man nicht selten auf ein unzureichendes Verständnis der Originalstelle. Das kommt auch bei erfahrenen Übersetzern vor und hängt damit zusammen, dass literarische Werke im Unterschied zu anderen Textsorten ihrer Intention nach mehrdeutig sind. Ein volles oder auch nur "korrektes" Verständnis solcher Werke durch eine Einzelperson ist streng genommen gar nicht möglich, weil der Sinn zum Unendlichen tendiert.

Beim Übersetzen literarischer Werke entsteht eine Dynamik innerhalb dessen, was man "Zielsprache" nennt. Diese Dynamik ist in erster Linie sprachlicher Art, sie kann aber auf die inhaltliche Ebene einwirken. Wie beim primären Schreiben kommt es beim Übersetzen eines Gedichts oder einer Erzählung zunächst darauf an, den richtigen Ton zu finden. Dieser Ton muss dem Originalton entsprechen. Über den "richtigen" Ton kann man diskutieren, es gibt für seine Erzeugung aber keinerlei Regeln.

Meine letzte Übersetzung war meine erste aus dem Japanischen. Das konnte ich nur in engster Zusammenarbeit mit einer japanischen Kollegin leisten, weil mir die chinesischen Zeichen nicht genügend vertraut sind. Bei dieser Arbeit kam es vor, dass ich den nächsten Satz des Romans (von Ryu Murakami) sagte, bevor Motoko Yajin, die Mitübersetzerin, ihn mir vorgelesen und kommentiert hatte. Es stellte sich heraus, dass mein Vorschlag dem Ergebnis, auf das wir danach kamen, sehr ähnlich war. "Wie hast du das gewusst?", fragte sie. Die Antwort ist zweifach: intensive Einfühlung in das Werk und Eigendynamik des deutschen Textes. Es ist, als könnte der nächste Satz eben nur dieser sein. Solche "Treffer" kommen selten, nur in einem fortgeschrittenen Stadium der Arbeit vor.

Eine Binsenweisheit: Der Übersetzer übersetzt Sätze. Er übersetzt keine einzelnen Wörter, arbeitet nicht Wort für Wort. Bei Sprachen, die einander sehr ähnlich sind, ist das ab und zu möglich; niemals bei Sprachen, deren Strukturen sich stark unterscheiden, wie beim Japanischen und dem Deutschen. Letzten Endes übersetzt der Übersetzer aber auch keine Sätze, sondern Texte.

Leider keine Binsenweisheit: Der Übersetzer ist ein Autor. Bei Amazon stößt man, wenn man einen Buchtitel (z. B. Leben der kleinen Toten) eingibt, oft auf zwei Namen in der Autorenzeile. Klickt man dann auf den Titel, wird präzisiert: Pierre Michon (Autor), Anne Weber (Übersetzer). Das ist gut so, auch die Präzisierung, denn der Übersetzer ist am Ende doch nur ein sekundärer, wenngleich – eine Tautologie – schöpferischer Autor. Vor Jahren haben die Übersetzergruppen das "Ende der Bescheidenheit" proklamiert. Ich plädiere dafür, im Übersetzer literarischer Werke einen bescheidenen Autor zu sehen.

Leopold Federmair, geb. in Wels, ist österreichischer Schriftsteller und Übersetzer. Er übersetzt v. a. aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen und lebt mit seiner Familie in Japan. 2012 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen.

Eine besondere Aura

Von Claudia Ott

Der Stoff, aus dem die Nächte sind, lagert heute gut bewacht in klimatisierten, dunklen und ruhigen Magazinen von Bibliotheken und Museen und hat dennoch nichts von seinem lebendigen und lärmenden Zauber verloren. Viele arabische Handschriften des erzählerischen Genres zeigen dem fachkundigen Leser die Spuren ihres einstigen Gebrauchs als Vorleseexemplare wie Lesernotizen, Leih- oder Besitzervermerke von Berufserzählern oder Lesern, die angeben, aus dem Buch vorgelesen zu haben. Solche Handschriften übersetzen zu dürfen ist eine der schönsten Aufgaben, vor die man sich vom Schicksal gestellt fühlen kann. Vielleicht ist es ihre besondere Aura, die mich als Übersetzerin dazu bewogen hat, auch ihre Übersetzung in handschriftlicher Form abzufassen und mir über das Papier, auf dem ich schreiben wollte, und die Buchform, in der die philologischen Vorarbeiten und später die Rohübersetzung stehen sollten, viele Gedanken zu machen.

Zum ersten Mal war das 1999 der Fall, als ich für die Übersetzung des ersten Teils von Tausendundeine Nacht auf die Suche nach einem geeigneten Papier ging. Damals musste es ein Papier aus ägyptischer Herstellung sein, und es kostete einige Anstrengung, bis sich in den Papiergroßmärkten von Kairo Papier der Sorte Rakta fand. Als ich den Verkäufern erklärte, wofür ich es brauchte, durfte ich keinen roten Fils dafür bezahlen. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich noch viele Jahre lang immer wieder durch solche Erlebnisse beschenkt werden würde.

Damals lernte ich auch den Buchbinder Farag Yusif kennen, der in einer kleinen, verstaubten Werkstatt mitten in der überfüllten Innenstadt von Kairo mit museumsreifen Maschinen Erstaunliches leistet. Er durchschoss mir meine Übersetzungsvorlage mit großformatigen leeren Blättern für die philologischen Vorarbeiten, heftete sie in vier Bände, die er mit handmarmorierten Vorsatzblättern versah und in Rindsleder einband, und machte mir aus dem restlichen Papier ein Blankobuch, das ich in den folgenden Jahren – Glück oder Schicksal? – bis exakt genau zur letzten Seite mit der Übersetzung füllte.

Vierzehn Jahre später, im Februar 2013, besuchte ich Meister Yusif zum zweiten Mal, um mir mein Manuskript für den zweiten Teil Tausendundeine Nacht binden zu lassen. Die Lage in Kairo war angespannt und die Werkstatt in einem noch erbärmlicheren Zustand als beim ersten Besuch, doch der Meister war noch am Platz, desgleichen seine Kollegen von den umliegenden Schreibwarenläden. Das war ein Hallo, als ich hereinkam, und der Meister machte sich sofort an die Arbeit und fing an, mit einem riesenhaften federnbesetzten Staubwedel den Staub von den alten Maschinen herunterzuwedeln.

Als ich allen Anwesenden von der Entdeckung von 101 Nacht erzählte und davon, woran ich in den vergangenen Jahren außerdem gearbeitet hatte, traf ich auf freudiges Interesse und aufrichtige Dankbarkeit dafür, dass ich ihnen "ihre eigene Literatur zurückbrächte", wie sie es nannten. Am Ende meinten die Schreibwarenhändler, sich bei mir für meinen Dienst an der arabischen Literatur bedanken zu müssen, indem sie mir alle ihre Waren als Geschenk anboten. Ich nahm, weil ich nicht gänzlich ablehnen konnte, eine mit Intarsien verzierte Büroklammer und einen Packen Papier, den mir der Meister mit unglaublicher Geschicklichkeit zwischen die Seiten meiner Übersetzungsvorlage einlegte.

Das Buch wurde gebunden, unter Steinen gepresst und getrocknet, und bevor ich mit meinem neuen Arbeitsexemplar wieder nach Deutschland zurückkehrte, kamen der Buchbinder und alle seine Kollegen zu meiner Lesung von 101 Nacht in die Altstadt, irgendwo in den verwinkelten Gassen bei der Azhar-Moschee. Die Geschichte vom Jungen Ägypter und dem Mädchen Gharibat al-Husn, die an diesem Abend im Mittelpunkt stand, beginnt nämlich genau dort. Ein Mädchen, das als Braut ins Haus des Bräutigams geführt werden soll und gerade einen Moment allein vor ihrer Tür warten muss, gerät mit ihrer Maultierstute versehentlich in eine vorbeiziehende Karawane mit 100 Mädchen auf 100 Maultieren und wird von den umgebenden Maultieren einfach mitgezogen, ohne zu wissen wohin. Ich konnte mir ein Augenzwinkern nicht verkneifen und die Bemerkung, dass es offenbar schon im 13. Jahrhundert Stau auf Kairos Straßen gab. Wer hätte gedacht, dass eine mittelalterliche Handschrift nicht nur Flugzeuge und Roboter, sondern sogar Kairos Verkehrsinfarkt voraussagen könnte?

Claudia Ott, geb. 1968 in Tübingen, ist Arabistin, Autorin und Übersetzerin, u. a. von "101 Nacht" (Manesse-Verlag, 2012), für dessen Übersetzung sie für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

Echter als die echte Welt

Von Alexander Nitzberg

Es existieren unterschiedliche Vorstellungen über den Vorgang des literarischen Übersetzens. Eine zum Beispiel sieht im Original etwas Vorgegebenes und Unveränderliches. Davon soll in der Zielsprache ein Abdruck gemacht werden, welcher dem Ausgangstext mehr oder weniger ähnelt. Für größere Annäherung sorgt die Flexibilität und stilistische Bandbreite des Übersetzers, der, dank seines Könnens, in der Lage ist, möglichst viele Wendungen und Eigenheiten des sprachlichen Kunstwerks nachzugestalten.

Ich möchte diese Methode als die mimetische bezeichnen und halte sie (obwohl mir bewusst ist, dass sie durchaus die populärste ist) für gedanklich etwas naiv. Die Ähnlichkeit, die hier als Qualitätskriterium fungiert, ist dieselbe, über die wir bei einem guten Porträtisten staunen. "Es ist ja wie nach dem Leben gezeichnet!" Das Problem dabei ist eben dieses "wie". Es handelt sich nicht um das Leben selbst, sondern um eine mithilfe der Kunst angefertigte Imitation desselben. Ein vom feinen Mechanismus angetriebener Vogel kann hüpfen, fliegen und zwitschern, ohne ein wirklicher Vogel zu sein.

Dem steht ein Verfahren gegenüber, welches ich das poetische nennen will. Hierbei dient die Kunst nicht dem raffinierten Nachahmen der "echten" Welt da draußen, sondern dem Erschaffen einer neuen Welt, die nach denselben Grundprinzipien funktioniert. Diese neue, erschaffene Welt ist mithin sogar "echter" als die "echte", weil sie den Zufall auszuschalten trachtet, um alles in maximaler Ausgewogenheit dem geistigen Urbild unterzuordnen.

Dem Dichter ebenbürtig

Hier gilt nicht die äußere Ähnlichkeit, sondern die innere, verborgene. Eben jene unsichtbare Harmonie, die, laut Heraklit, stärker ist als die sichtbare. Bei dieser Methode gilt das Original nicht als das wirkliche Original, sondern seinerseits als ein sprachlicher Abdruck einer vorsprachlichen Idee – erfolgt an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit. Nur weil dieser Abdruck inzwischen hart geworden ist, wirkt er auf uns so unveränderlich.

Der Übersetzer betrachtet den Text als ein geheimes Zeichensystem, dessen Chiffren allesamt auf das eigentliche unaussprechliche Original hindeuten. Von diesem macht er, wie einst der Dichter, einen Abdruck – freilich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit – in seiner eigenen Sprache. Der Übersetzer erscheint dann im günstigsten Fall dem Dichter ebenbürtig. Der Vogel ist nicht bloß künstlich nachgebildet, sondern tatsächlich ein lebendes Wesen. Vielleicht nicht so perfekt wie sein mechanischer Doppelgänger, dafür aber atmend und, was noch wichtiger ist, fähig, sich fortzuzeugen – in demselben Sinne wie sein Original.

Die Übertragung

Der Uhrenzeiger will sich kaum beeilen
an diesem Abend wandellos und fahl.
Da strahlt mich an mit vier geraden Zeilen
das aufgeschlagene Original:
"Zur Dämmerung verstummt das laute Treiben.
Die Stille wird zu einem langen Ton.
Ein goldner Vollmond schillert durch die Scheiben,
ich aber seh nur seine Reflexion."
Die Zeilen möchte ich herüberheben,
doch unverrückbar stehen sie vor mir.
Ich kann sie nicht wortwörtlich wiedergeben,
und dennoch, weiß ich, bleiben es nur vier:
"Des Tages Lauf verliert sich in der Ferne,
und alles Lärmen läutet klar und lau.
Am Fenster flimmert eine Mondlaterne,
>während ich sie im Spiegelglas erschau."

Alexander Nitzberg, geb. 1969 in Moskau, ist ein deutsch-russischer Autor und Übersetzer und lebt heute als freier Schriftsteller in Wien. Für seine Neuübersetzung von Bulgakows "Der Meister und Margarita" (Galiani-Verlag) wurde er für den Leipziger Buchpreis nominiert.

Übersetzungskritik

Von Karin Fleischanderl

Literaturkritiker A: Hast du die neue Übersetzung von Madame Bovary schon gelesen?

Literaturkritiker B: Selbstverständlich! Ein Meisterwerk! Unerreicht! Die Übersetzerin zeigt uns den wahren Flaubert.

Literaturkritiker A: Bin ganz deiner Meinung. Zum Beispiel die Stelle, als der junge Charles Bovary in die neue Schule kommt: Ein Neuer im bürgerlichen Aufzug tritt in den Arbeitssaal. In einer Übersetzung, die vor zehn Jahre erschienen ist, heißt es, er trüge zivile Kleidung.

Literaturkritiker B: Die neue Übersetzung intoniert gleich zu Beginn das Bürgerliche, das Flaubert zutiefst verabscheute.

Literaturkritiker A: In einer noch älteren Übersetzung ist von einem neuen Schüler die Rede, der noch nicht die Anstaltskleidung trägt und das Studierzimmer betritt. Grauenhaft.

Literaturkritiker B: Die alten Übersetzungen waren schrecklich ungenau. Da heißt es: Er wagte nicht einmal die Beine zu überkreuzen.

Literaturkritiker A: Völlig daneben. Flauberts Modernität geht völlig verloren.

Literaturkritiker B: In der neuen Übersetzung heißt es hingegen: Er wagte nicht einmal die Schenkel übereinanderzuschlagen.

Literaturkritiker A: Herrlich, diese Präzision. Ganz nah an der französischen Syntax, an Flauberts Zeichenhaftigkeit. Da hört man richtig die Schenkel der Franzosen klatschen, wenn sie die Beine übereinanderschlagen.

Literaturkritiker B: Die Schenkel, nicht die Beine!

Literaturkritiker A: Du hast recht, französische Schenkel sind deutschen Beinen vorzuziehen ...

Literaturkritiker B: Überhaupt das lautmalerische Element: In den alten Übersetzungen stellt sich der nuschelnde Schüler immer mit Charbovari vor. In der neuen hingegen mit Schahbovari. Da denkt man doch gleich an ...

Literaturkritiker A: Woran?

Literaturkritiker B: Na woran?

Literaturkritiker A: An den Schah von Persien?

Literaturkritiker B: Aber nein doch. An ein Schaf! Das Tierische wird mitübersetzt!

Literaturkritiker A: Genial.

Literaturkritiker B: Wirklich die beste der 28 Bovary-Übersetzungen, die es bis dato gibt.

Literaturkritiker A: Aber von der vorletzten warst du auch entzückt?

Literaturkritiker B: Selbstverständlich! Auch diese Übersetzung war ein Meisterwerk. Unerreicht! Auch diese Übersetzerin hat uns den wahren Flaubert gezeigt.

Literaturkritiker A: Und wenn in zehn Jahren wieder eine erscheint?

Literaturkritiker B: Dann wird auch sie ein Meisterwerk sein. Unerreicht! Auch diese Übersetzerin wird uns einen völlig neuen, den wahren Flaubert zeigen.

(Quelle: Die ZEIT, 6. 12. 2012)

Karin Fleischanderl, geb. 1960 in Steyr, ist österreichische Übersetzerin und Publizistin. Sie studierte Italienisch, Englisch und Romanistik, ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Kolik" und lebt in Wien.

(Album, DER STANDARD, 9./10.2.2013)