Die Wahl des argentinischen Kardinals Jorge Bergoglio zum Papst steht im Kontext der Suche der Katholischen Kirche nach einer Antwort auf die großen Herausforderungen der globalisierten Moderne.

In den vergangenen Jahren hat weltweit ein massiver Urbanisierungsschub stattgefunden. Stammte früher die Durchschnittskatholikin aus einem ländlich-agrarischen Milieu, so ist heute das Gegenteil der Fall: Der Katholik unserer Tage lebt als Neuankömmling in einer der Megacitys Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, ist arm, entwurzelt und sieht sich teilweise auch durch die etablierte Gesellschaft verfolgt.

Bisher hat die katholische Kirche auf diese demografische Veränderung kaum reagiert. Sie hat über viele Jahrhunderte hinweg ein flächendeckendes globales Netz an Pfarrgemeinden im ländlichen Raum geschaffen, in den neu entstandenen Trabantenstädten ist sie aber nur wenig vertreten. Diese Lücke füllen die "Freikirchen". Dabei handelt es sich um dezentral strukturierte christliche Gemeinden, die ganz vom persönlichen Charisma ihrer Gründer und Zugehörigen getragen sind. Mit den etablierten Kirchen halten sie keinen Kontakt und lehnen diese auch ab. Ihre Botschaft ist einfach: Sie predigen persönliche Bekehrung, individuelle Arbeitsmoral und klare Regeln (kein Alkohol, kein Ehebruch, klare Rollenverteilung von Mann und Frau, kein Umgang mit Andersdenkenden), das heißt, sie geben den vielfach desorientierten Wanderarbeitern, die ihre alten Familien hinter sich lassen mussten, eine neue, klar strukturierte Identität. Politisch sind sie meist konservativ.

Die erste Herausforderung der katholischen Kirche besteht also darin, schwerfällige Strukturen zu ändern, neue soziale urbane Netzwerke an den Rändern der Gesellschaft aufzubauen, Laien stärker an der Verkündigung der christlichen Botschaft zu beteiligen und sich in die neuen Lebenswelten der Migranten zu begeben. Was das Profil des Papstes betrifft, muss dieser Identifikationsfigur für die Armen und Entwurzelten sein mit der Fähigkeit, diesen eine glaubwürdige Botschaft der Hoffnung zu vermitteln.

Bergoglio, der als Erzbischof von Buenos Aires einen sehr bescheidenen Lebensstil pflegte, hat mit der Wahl des Namens "Franziskus" bewiesen, dass er sich dieser Hauptherausforderung bewusst ist: Franziskus war im ausgehenden Mittelalter ein Zeichen der Hoffnung für die Armen in den damals neu entstandenen und rasant angewachsenen Städten.

Eine zweite Herausforderung für den neuen Papst liegt in der Reformbedürftigkeit des vatikanischen Verwaltungsapparats, der vielfach eine Sonderexistenz führt, die mit der Lebensrealität der Menschen außerhalb der vatikanischen Mauern wenig zu tun hat. Hier könnte dem Papst der jesuitische Hintergrund helfen. Bis heute sind die Jesuiten der größte katholische Orden, der weltweit bestens vernetzt ist, noch immer ein bedeutendes intellektuelles Potenzial im interreligiösen Dialog darstellt und dabei eine besondere Nähe zu den Marginalisierten aufweist. Hinzu kommt, dass der Jesuitenorden ganz besonders in den Hoffnungsgebieten der Kirche Asiens, d. h. in China und Indien, präsent ist.

Ein Anzeichen für eine Kirchenreform hat Bergoglio ja möglicherweise bereits mit seinen ersten an die Gläubigen gerichteten Worten gesetzt: Er hat den Akzent ganz auf seine Wahl zum Bischof von Rom gelegt und das damit verbundene Papstamt in den Hintergrund treten lassen. Dies deutet darauf hin, dass er die Kirche kollegial leiten will unter stärkerer Einbeziehung der Ortskirchen.

Vieles, nicht zuletzt die Namenswahl Franziskus, deutet darauf hin, dass Bergoglio den Platz der Kirche fernab von Privilegien, Macht und Reichtum sieht; wie er der säkularen, sich kulturell radikal verändernden europäischen Welt, die auch diejenige seines zukünftigen Bischofssitzes Rom ist, begegnet, wird sich weisen. (Kurt Appel, DER STANDARD, 15.3.2013)