"Wir blicken weder über den Teller- noch über den Laptoprand hinaus": Stephan Grünewald, Autor von "Die erschöpfte Gesellschaft".

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"Wer gibt zuerst w. o.?", scheint in vielen Firmen die Frage zu sein.

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Der Titel ist bereits die Diagnose: "Die erschöpfte Gesellschaft" heißt das neue Buch von Stephan Grünewald. Der Psychologe und Leiter des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold stützt seinen Befund auf tausende Tiefeninterviews, die er und seine Mitarbeiter in den vergangenen Jahren geführt haben. Was es mit dem Zusatz "Warum Deutschland neu träumen muss" auf sich hat und welche Wege aus der "Überbetriebsamkeit" führen könnten, erklärt er im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie propagieren in einem Interview mit "Werben & Verkaufen" die 40-Stunden-Woche als maximales Arbeitspensum, um sich nicht seiner Kreativität zu berauben. Was liegt diesem Ansatz zu Grunde?

Grünewald: Das war eine provokante Nebenbemerkung, die ein bisschen aufgeblasen wurde. Der Grundgedanke ist, dass die Gesellschaft in Deutschland - und wohl auch in Österreich - immer stärker in einen Modus der Überbetriebsamkeit gerät. In der Arbeitswelt bedeutet das: immer mehr Multitasking, Meetings und Mails. Dazu kommt noch der multioptionale Freizeitstress. Menschen spüren, dass die Maximierungskultur des Höher, Schneller und Weiter an einem Wendepunkt ist. Es herrscht eine Zukunftsungewissheit, die unterschwellig Angst erzeugt. Die Reaktion ist, dass viele Menschen auf Autopilot schalten und versuchen, möglichst effektiv und betriebsam durch ihren Alltag zu kommen. In dieser besinnungslosen Betriebsamkeit vermeiden sie es, sich selbst oder ihr Leben in Frage zu stellen. Das ist die Grunddiagnose.

derStandard.at: Und die Konsequenz?

Grünewald: Die Flucht in die Überbetriebsamkeit treibt immer größere Teile der Gesellschaft in die Erschöpfung. Mein Ansatz ist, dass es ein natürliches Korrektiv gibt. Das Träumen. Nachts können wir nicht betriebsam sein, die Motorik ist stillgelegt. Das ermöglicht uns eine ästhetische Narrenfreiheit. Der Traum legt den Blick frei, was in der Betriebsblindheit des Tages untergegangen ist. Sehnsüchte, Probleme, Anliegen, die wirklich wichtig sind. So können wir ganz anders priorisieren, aus dem Hamsterrad ausbrechen, innovativ und kreativ sein. Wir müssen uns fragen, ob wir künftig das Land der Workaholics und Bürokraten sein wollen oder das Land der Träumer, Dichter und Querdenker?

derStandard.at: Kreativität bleibt aufgrund der Überbetriebsamkeit auf der Strecke?

Grünewald: Genau. Wir sind mittlerweile so durchgetaktet, dass wir zwar nachts noch träumen, uns aber am Morgen nicht mehr daran erinnern können und keinen Bezug mehr zu dieser korrigierenden Kraft, die in den Träumen steckt, entwickeln können.

derStandard.at: Gibt es ein probates Mittel, um sich diese Dinge ins Bewusstsein zu rufen?

Grünewald: Wir brauchen in unserem Alltag wieder Dehnungsfugen. Wenn wir gleich nach dem Aufwachen aufspringen, unser Smartphone in Betrieb nehmen und die Mails checken, sind wir sofort  im Betriebsmodus. Meine Empfehlung ist: länger liegenbleiben, ein bisschen weiterdösen, zu überlegen, was einem in der Nacht so durch den Kopf gegangen ist. Das ist eine Form der Verarbeitung und Gewichtung, die in der Nacht passiert. Wir sind ja höchst produktiv, nur kappen wir diesen Strang ab.

Eine andere Empfehlung ist langes Duschen, im fließenden Modus des Duschens lösen sich Probleme ganz anders. Nicht nur Schmutz lässt sich abwaschen, sondern auch Verhärtungen, die wir mit uns rumtragen. Oder langes Frühstücken finde ich wichtig, weil man hier nicht nur die Brotreste, sondern auch die Tagesprobleme durchkauen kann. Das Bahnfahren war früher eine Möglichkeit, damit Leute ihre Gedanken schweifen lassen konnten. Hier stellt sich etwas Traumanaloges ein. Mittlerweile sitzt jeder vor seinem Laptop und bearbeitet irgendwelche Mails. Wir blicken weder über den Teller- noch über den Laptoprand hinaus.

derStandard.at: Leute sollen sich einfach zurücknehmen, um wieder in den Modus des Reflektierens zu kommen?

Grünewald: Ja, auf der Handlungsebene. Ziel ist, dass wir diese Vereinseitigung kritisch hinterfragen, dass alles nur noch einem Leistungsprimat und einem Effizienzdiktat geschuldet wird. Wenn wir das machen, blutet unsere Innovationsfähigkeit, unser schöpferisches Potenzial aus. Es gibt eine natürliche Rhythmik von Tag und Traum, von Betriebsamkeit und Innehalten. Das ist in den letzten Jahren empfindlich gestört worden. Im Buch geht es darum, diese Rhythmik wiederzufinden. Mit konkreten Empfehlungen wie dem Einführen von Dehnungsfugen im Alltag oder jedem Wochentag eine andere Bedeutung beizumessen.

derStandard.at: Wie?

Grünewald: Jeder Tag hat eine spezifische psychologische Funktion. Der Montag ist der Tag, an dem wir den Montageplan für die ganze Woche machen. Am Dienstag stellen wir uns in den Dienst dieses Montageplans, der Mittwoch ist wie das Stehen auf einem Hochplateau, um die Woche korrigieren zu können etc. Die Tendenz ist, dass wir alle Wochentage gleich ablaufen lassen und zum Beispiel den Sonntag zu einem Arbeitstag oder Kauftag umfunktionieren. So passieren auch keine neuen Entwicklungen mehr, es grüßt nur mehr täglich das Murmeltier.

derStandard.at: Was wäre auf einer höheren Betriebs- und Führungskräfteebene ein mögliches Regulativ? Zum Beispiel die strikte Limitierung der Arbeitszeit, die Überstunden nicht erlaubt?

Grünewald: Zu stark sollte man das auch nicht formalisieren. Es kann sein, dass man gerade in einem spannenden Prozess steckt, der längeres Arbeiten, etwa 50 Stunden, erfordert. Nur sollte klar sein, dass dann in der nächsten Woche nur 30 Stunden gearbeitet werden sollen, um eine Regenerationsphase zu haben.

derStandard.at: Das sollte die übergeordnete Firmenpolitik sein?

Grünewald: Ja, es gibt aber in vielen Unternehmen eine Art Erschöpfungskonkurrenz unter den Mitarbeitern. Der Werkstolz früherer Zeiten wird nicht mehr erlebt, weil man nicht mehr das Gefühl hat, was eigentlich meine Verantwortung, mein Werk ist. Das führt dazu, dass der Werkstolz durch einen Erschöpfungsstolz abgelöst wird. Mitarbeiter sind am Ende des Arbeitstages stolz auf den Grad der Erschöpfung, den sie sich angearbeitet haben. Das führt zu dieser Zunahme von psychosomatischen Störungen, etwa Kopfschmerzen oder Burnout-Syndrome. Als Arbeitgeber hat man vielleicht das Gefühl, dass alle sehr produktiv sind. Das ist aber ein Trugschluss, da man nur mehr einfallslose, ausgebrannte Mitarbeiter hat. Solche Erschöpfungskonkurrenz könnte man unterbinden, indem man von oben Grenzen zieht. Etwa ab einem gewissen Zeitpunkt keine Mails mehr weiterzuleiten, damit Mitarbeiter nicht in Versuchung kommen, auch nachts zu arbeiten.

derStandard.at: Diesen Erschöpfungsstolz kann man auch minimieren, indem man beispielsweise die Arbeitszeit strikt reglementiert?

Grünewald: Ja, wobei ich wie gesagt kein Verfechter von strengen Formalismen bin. Es müsste ein neuer Geist in die Unternehmen einkehren. Der muss von der Führungsebene gelebt werden, also nicht nur renditeorientiert agieren, sondern eine Sinnhaftigkeit, eine Leidenschaft in die Arbeit reinbringen. Wenn man den Sinn nicht in der Arbeit findet, verschiebt sich die Suche danach in andere Felder. Etwa dass man Bestätigung über seinen Erschöpfungsgrad erfährt oder der Masse an Mails, auf die man pro Tag kommt.

derStandard.at: Ein interner Konkurrenzkampf?

Grünewald: Das sind moderne Fronterlebnisse, die im Kollegenkreis ausgebreitet werden. Wie: "Ich habe heute 250 Mails bekommen." Der andere prahlt damit, dass er 14 Stunden gearbeitet hat etc. Es wird nicht mehr deutlich, was man gemacht hat. Das ist nur mehr eine formalisierende Betrachtung des eigenen Tuns.

derStandard.at: Als mögliches Regulativ haben Sie auch Gehaltsentzug bei Überstunden ins Spiel gebracht?

Grünewald: Das war nur ein Gedankenspiel, weil dieses Verhalten, das ja Raubbau an der eigenen Kreativität ist, belohnt wird. Das ist ein Paradoxon. Wir müssen umdenken und uns fragen, warum wir das eigentlich belohnen? Wer so viel arbeitet, schadet ja nicht nur sich, sondern auch dem Unternehmen. Statt Freude am Tun regiert Einfallslosigkeit. (Oliver Mark, derStandard.at, 26.3.2013)