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Die Folgen von Fehldiagnosen und -behandlungen sind oft gravierend: Von einem Tag auf den anderen sind die Betroffenen hilflos und abhängig.

Foto: APA/BARBARA GINDL

Eva Steinhauser ist hörbehindert, sehbehindert und sitzt im Rollstuhl. Gemeinsam mit ihrem Anwalt begründete sie 2004 die Selbsthilfegruppe für Diagnose- und Behandlungsopfer. Wer an einem der monatlichen Treffen Freitagabend im Wiener Nachbarschaftszentrum Rennbahnweg teilnimmt, sieht sich mit Schicksalsschlägen konfrontiert, die sonst meist im Verborgenen bleiben.

Oft sind es ältere Personen, die den Verein kontaktieren. Sie bevorzugen das persönliche Gespräch und nicht die Anonymität von Internetforen. Für einige Teilnehmer ist bereits der Weg ins Vereinslokal mit Hürden verbunden: Sie sind gehbehindert, alleinstehend, verfügen über zu wenig Geld, um sich einen Fahrtendienst leisten zu können, leiden unter starken chronischen Schmerzen. Wie Herr M., dem nach einem Arterienverschluss in beiden Beinen das "schlechtere" Bein amputiert werden sollte. Als er aus der Narkose erwachte, war das "bessere" Bein abgenommen. Seit knapp acht Jahren läuft sein Prozess um Schadenersatz und Schmerzensgeld; bislang ohne Ergebnis.

Bislang keine Entschädigung

Auch die Vereinsobfrau selbst ist in einem langen Leidensweg gefangen. Im Jahr 2000 hatte die damals 57-Jährige einen Schlaganfall, der nicht diagnostiziert wurde. Am nächsten Tag war sie halbseitig gelähmt. Auf der Neurologie lautete die Diagnose Gehirntumor. Ihr Sohn Nicolai veranlasste die Überstellung in ein anderes Krankenhaus, wo 14 Tage nach dem Ereignis kein Gehirntumor, sondern ein beidseitiger Schlaganfall festgestellt wurde. Mittlerweile hat Steinhauser vier Schlaganfälle und drei Herzinfarkte hinter sich und ist schwere Diabetikerin. Entschädigung für die Fehldiagnose und -behandlung hat sie keine erhalten.

Dass sie anderen Opfern von Behandlungs- und Diagnosefehlern ein Forum bieten kann, ist angesichts ihrer gesundheitlichen Verfassung nur schwer vorstellbar. "Früher konnte ich mir selbst nicht helfen", bestätigt sie. Heute leitet sie die Gruppe mit tatkräftiger Unterstützung ihres Sohnes. Die Vereinsgründung vor neun Jahren bezeichnet sie als "Verzweiflungstat". "Der Verein hat mich am Leben gehalten", sagt sie. Nun sei es ihr Ziel, Betroffenen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können.

Die Selbsthilfegruppe steht allen Menschen offen, die unter Behandlungs- und Diagnosefehlern leiden, sowie ihre Angehörigen. In erster Linie bieten die Treffen Raum zum Erzählen und Zuhören. Es werden gemeinsame Aktivitäten wie Ausflüge und behindertengerechte Urlaube sowie Vorträge von Gesundheitsexperten organisiert. Darüber hinaus ermöglichen die Steinhausers medizinische Fachberatung für die geschädigten Personen durch Ärzte, die dem Verein verbunden sind. Sie bieten Unterstützung in Amtsangelegenheiten, koordinieren Termine bei Ärzten und Institutionen. Die Obfrau stellt sich dem sprichwörtlichen Kampf gegen die Windmühlen. "Wir sind ja die, die in gewisser Weise Kritik am System üben", sagt sie und bezeichnet sich selbst als "die, die immer lästig ist".

Die Zahl der Betroffenen liegt im Dunkeln

Darüber, wie viele Menschen in Österreich von Diagnose- und Behandlungsfehlern betroffen sind, kann nur spekuliert werden. Es gebe "noch immer" keine validen Daten, berichtete das Nachrichtenmagazin "Profil" bereits im Juni 2006 (>> zum Artikel). Weshalb der Medizinjournalist Kurt Langbein in seinem Buch "Verschlusssache Medizin" eine Harvard-Studie aus den 1990er Jahren auf Österreich hochrechnete, um auf jährlich rund 30.000 Schadens- sowie etwa 3.000 hervorgerufene Todesfälle durch ärztliche Fehlbehandlung rückzuschließen.

Seitens der Ärztekammer hagelte es Kritik: Langbein habe "uralte Zahlen aus den USA" mittels einer "unseriösen Methode" auf Österreich hochgerechnet, es gebe in diesem Zusammenhang keine wie immer gearteten validen Zahlen in Österreich. Das ist auch der aktuelle Stand von Ende März 2013.

"Es stellt sich die Frage, welchen Zahlen und welcher Argumentationen man am ehesten Glauben schenkt", sagt Nicolai Steinhauser. Man könne so oder so sicher nicht von ein paar Einzelfällen sprechen. "Unser Anliegen ist es, die Betroffenen sichtbar zu machen", betont er. Thematisiert werden soll, dass diese nicht nur ihre Gesundheit verlieren, sondern oft viel mehr: Beruf, Freunde und Familienmitglieder, die sich der neuen Situation nicht gewachsen sehen, und manchmal, mangels Barrierefreiheit, sogar das eigene Zuhause.

Parallel dazu beginnt eine Odyssee durch die Behörden - von Sachgutachter zu Sachgutachter, von der PVA über das AMS bis zum Bundessozialamt - sowie die Absolvierung von Therapie- und Arztterminen. Für Menschen in der Krise sei das alles ohne Hilfe nicht zu bewältigen, wissen die Steinhausers aus eigener Erfahrung. Von einem Tag auf den anderen müssten die Betroffenen damit umgehen, hilflos und abhängig zu sein. "Öfters noch müssen sie sich gefallen lassen, dass man sie und ihre Belange nicht ernst nimmt, sie vielleicht noch als Hypochonder hinstellt", so Nicolai Steinhauser.

Verständnis trotz Leiden

Trotz ihrer Leiden zeigen einige Teilnehmer der Selbsthilfegruppe Verständnis für die Fehler der Ärzte. Ärzte seien auch nur Menschen, heißt es. Überdurchschnittlich viele Suizide würden in diesem Berufsstand verübt und Burn-out-Diagnosen gestellt. Was die Betroffenen kritisieren, sind die Umstände, die zu den Behandlungs- und Diagnosefehlern führen, wie zu wenig Personal, zu lange Dienstzeiten, kein Fehlermeldesystem, keine Kontroll-Checklisten.

"Wenn Fehler passieren, handelt es sich meistens um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren", wissen die Steinhausers. So lautet der einhellige Wunsch der Betroffenen, dass nicht der Patient unter fehlenden oder falschen Strukturen in der Gesundheitspolitik leiden müsse; vor allem aber, dass Verantwortung übernommen wird. Angesichts der oft viele Jahre dauernden Prozesse sei das viel zu selten der Fall. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 26.3.2013)

>> Wohin sich Betroffene wenden können - Tipps vom Ombudsmann der Wiener Gebietskrankenkasse