Dominik Graf und die Überraschung: "Plötzlich rastet auch der Regisseur aus und dreht Einstellungen, von denen niemand wusste."

Foto: Newald

Graf: "Ich wusste an der Hochschule in München erst nicht genau, was ich wollte."

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STANDARD: Sie haben das Kino einmal als "schwerfällig" bezeichnet. Die schneller realisierbare TV-Arbeit empfinden Sie hingegen als befreiend. Erklärt das schon die beiden Pole Ihres Schaffens?

Graf: Ich fand das deutsche Kino tatsächlich immer sehr schwerfällig. Das hat vor allem mit den Modi zu tun, wie es finanziert wird, wie viele Stellen ein Projekt durchläuft, wie viele Debatten damit verbunden sind. Das war in meiner Anfangszeit so, und daran hat sich durch hunderte Länderförderstellen nicht viel verändert. Der Film ist in Deutschland eine Scheinindustrie wie die Werftindustrie: Wir bauen Schiffe, die keiner braucht. Es gibt nur wenige, die mit Passagieren reisen können - und diese könnten sich wiederum von vergangenen Erfolgen finanzieren: die Til-Schweiger- oder Matthias-Schweighöfer-Komödien. Das meiste andere ist der Luxus einer Industrie, die viele Filme hervorbringt, die direkt ins Museum wandern.

STANDARD: Das klingt wie ein tautologisches System, das eigentlich keine Öffentlichkeit mehr braucht.

Graf: Das frisst sich in gewisser Weise selbst auf. Insofern ist das Fernsehen als eindeutige Abspielstätte viel einfacher zu handhaben. Es gibt klare Ansprechpartner, Filme lassen sich schneller realisieren, man braucht nicht zwei Jahre und 27 Jurys, die im Endeffekt alle gleich besetzt sind. Das Fernsehen ist, was beim industriellen Film früher B- und C-Pictures waren: kleine Filme, auf die kein Riesenscheinwerfer fällt. Es kommt ihnen jedoch Bedeutung zu, wenn sie um 20.15 Uhr ausgestrahlt werden.

STANDARD: Sie haben in den 70ern studiert, als der geförderte Autorenfilm in Deutschland erste Erfolge feierte. Hatten Sie damals schon die Tendenz, sich abzugrenzen?

Graf: Ich wusste an der Hochschule in München erst nicht genau, was ich wollte. Mit ein paar anderen war ich dann einer der Ersten, die keine Laien mehr besetzt haben, sondern Schauspieler. Das war eine Revolution, denn Schauspieler galten als berüchtigt, die schönen Drehbücher kaputtzumachen. Ich hatte erste Erfolge, war aber sehr unzufrieden. Der Wendepunkt kam mit der Chance, bei der Bavaria Vorabendserien realisieren zu können. Ich wusste, ich wollte kein Autorenfilmer sein, sondern zuerst mein Handwerk lernen. Das hat dann zu einer Maulwurfstätigkeit geführt, bei der man als Regisseur nicht erkennbar ist, sondern eben versucht, die Filme so spannend und lustig wie möglich zu machen.

STANDARD: Das klingt ein wenig nach dem, was US-Kritiker Manny Farber einmal "Termitenkunst" nannte - sind Sie mit diesem Gestus schon zur Bavaria gekommen?

Graf: Die Studienkollegen von Wim Wenders sind fast geschlossen zur Bavaria gewandert und machten dort nicht nur selber Filme, sondern wurden Dramaturgen und Produzenten. Man hatte also ein Backing von Leuten, die denselben Filmgeschmack hatten. Diese Leute haben Regisseure wie mich als ihre Instrumente benutzt. Sie haben sich über uns ausgedrückt. So kamen Serien wie "Der Fahnder" zustande, die das Fernsehen auf den Kopf gestellt haben. Das war ein Kreativpool im Namen der Verbesserung von Konfektionsware: bloß nicht sich selber verwirklichen oder so einen Schmarrn!

STANDARD: Das Erzähltempo Ihrer Filme ist enorm. Woher kommt diese Faszination für ökonomisches, schnelles Storytelling?

Graf: Aus meinen eigenen Kinoerlebnissen. Deswegen war ich von meinen ersten Filmen so enttäuscht: Sie waren so langatmig, redundant. Amerikanische, französische, italienische, jedenfalls nichtdeutsche Filme haben mich gefordert - durch Geschwindigkeit, Mut, ob das jetzt Godard war oder New Hollywood.

STANDARD: Es gibt in Ihren Filmen immer wieder Szenen, die durch ihre schiere Wucht überraschen, etwa eine Schlägerei bei "Das unsichtbare Mädchen". Planen Sie solche Überwältigungen ein?

Graf: Diese Schlägerei ist ein gutes Beispiel dafür, dass einem einzelne Szenen oder Dialoge eigentlich mehr Spaß machen als die Geschichte selbst, das große Ganze. Es kommt immer auf den einzelnen Moment an. Das habe ich auch aus meiner Kinoerfahrung. Untendrunter ist stets die Struktur, die soll man allerdings nicht merken.

STANDARD: Überraschend daran ist auch, dass das bei Redakteuren alles durchgeht - ist das auch der Versuch, Konfektion zu sprengen?

Graf: Es kann sie sprengen. Im Fall von "Das unsichtbare Mädchen" handelt es sich um einen ZDF-Krimi, ausgestrahlt um 20.15 Uhr, montags. Innerhalb dieses Slots, dieses Genres will ich Sachen einbauen, die ich als Angebote verstehe. Wenn es am Ende zu einem erstaunlichen Akt von Selbstjustiz kommt, dann ist das immer mit den Redakteuren abgesprochen. Es geht um einen Exzess, der die angestaute Gewalt in diesem Setting freilässt und zu einem Seufzer des Entsetzens oder der Erleichterung führt.

STANDARD: Sie wurden nie angehalten, Szenen zu entschärfen?

Graf: Ich weiß, dass es auch anders zugeht. Bei mir gab es ein paar berühmte Sitzungen, bei denen Projekte zerstört wurden. Aber vielleicht ahnt man mit dem Alter die Bedrohung durch den Holzwurm eher. Dann sagt man halt: "Lass ma's sein." Oder wehrt die Argumentation ab. Wenn man sein Handwerk beherrscht, kann man sich sehr gut vorbereiten; man ist aber auch in der Lage, Dinge beim Dreh nochmals ganz anders zu machen. Das gleicht dann einer Improvisation. Plötzlich rastet auch der Regisseur aus und dreht vier, fünf Einstellungen, von denen niemand wusste. Die stehen auf keinem Geheimzettel, sondern fallen mir dann im Moment ein. (Dominik Kamalzadeh / Isabella Reicher, DER STANDARD, 22.3.2013)