Seit Jahrzehnten schon geistert in ziemlich regelmäßigen Abständen eine staunenswerte Nachricht durch die Gazetten. So auch am 20. 3. wieder (im Standard-Bericht über die jüngste Bildungsstatistik). Kurz gefasst lautet die Botschaft: Höhere Bildung wird (in Österreich) nach wie vor " vererbt". Anders ausgedrückt: Die Kinder aus "bildungsfernen" Schichten sind in den höheren Schulen und erst recht an den Hochschulen unterrepräsentiert, also nicht gemäß ihrem prozentuellen Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten. Das Schulsystem - so heißt es zumeist - sei immer noch auf Selektion hin angelegt. Karl Heinz Gruber führt in seinem im nämlichen Standard publizierten Kommentar Funktionäre der AHS-Lehrergewerkschaft vor, die behauptet hätten, "es gäbe in österreichischen Schulen keine soziale Auslese". Natürlich hat Gruber recht, wenn er demgegenüber aus dem Nationalen Bildungsbericht (NBB) zitiert: "Nahezu zwei Drittel der 17-Jährigen, deren Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen, besuchen die AHS. Verfügen die Eltern hingegen nur über Pflichtschulbildung, streben nur acht Prozent eine AHS-Matura an."

Staunenswert bzw. verwunderlich ist meines Erachtens nicht der Sachverhalt als solcher, sondern der offensichtlich damit verbundene Wunsch, es möge anders sein. Andersherum: Dass der Schule die Selektionsfunktion zugehört, wird selten bestritten (außer von den Hardlinern des "pädagogisch Eigentlichen"), aber diese Selektion dürfe keine soziale sein.

Banaler Sachverhalt

Wie aber - so fragt man sich -, wenn die beiden Dinge zusammengehören? Was also tun, wenn die Selektion nach (Schul-)Leistung nicht ganz von der sozialen Selektion zu trennen ist?

Ist es nicht ziemlich banal, dass sich Kinder aus Elternhäusern, in welchen zum Beispiel Bücher und Qualitätszeitungen selbstverständlich sind, in welchen auch eine entsprechende Sprache gesprochen wird, schon beim Schuleintritt leichter tun, dass andererseits Kinder, die eine derartige Umgebung entbehren, sich schwerer tun? Grob formuliert: Wo Bildung nichts bedeutet, bedeutet sie auch nichts. Und wo sie schon in puncto gesellschaftlicher Status und Einkommen bei den Eltern eine Rolle gespielt hat, wird sie auch im erzieherischen Umgang mit dem Nachwuchs eine Rolle spielen. Das ist im Grunde das ganze Geheimnis der Sozialisationstheorie. Kinder lernen eben, was ihnen ihre Umgebung (das " Milieu") zu lernen bietet bzw. abnötigt. Sie kommen nicht als Tabulae rasae in die Schule.

Wer das im Detail haben will, muss nur etwa Pierre Bourdieus La distinction aus dem Jahre 1979 (Die feinen Unterschiede, 1987) lesen. 1971 erschien schon sein aufsehenerregendes Buch Die Illusion der Chancengleichheit. Während zum Beispiel die eine Gruppe von Kindern im Sprachunterricht bloß anzuknüpfen braucht, muss die andere "umlernen" und hat es auch in Mathe (Textverständnis) schwerer. Gesellschaftspolitisch war Bourdieu ein "Linker" (u. a. Berater der kommunistischen Gewerkschaft), in Bildungsfragen war das nicht so eindeutig. In seiner Schrift Was sprechen heißt warnte er zum Beispiel davor, die Anforderungen im Sprachunterricht an das Unterschichtklientel schlicht anzupassen ("Unterricht in der Umgangssprache hieße dann also Unterricht in jener Sprache, deren Unterricht auf der Straße stattfindet ...").

Man muss kein Linker sein, um der Milieutheorie den Vorzug vor der biologischen Erbtheorie zu geben. Die diesbezüglichen Daten sprechen für sich und stimmen obendrein mit jedweder Alltagserfahrung überein. Interessant wären hingegen die Ausreißer aus diesem Konzept, die es schon von jeher gegeben hat und immer wieder gibt. Quantitativ-statistisch dürfte es hier für die Forschung kaum Chancen geben, allerdings für eine relativ neue pädagogische Disziplin, nämlich die pädagogische Biografieforschung. Arbeiterkinder an den Unis hat es schon in den Fünfzigern gegeben, in den Siebzigern unter Kreisky stieg deren prozentueller Anteil aus leicht erklärlichen Gründen, und er steigt weiter. Aber warum?

Vor allem aber kann man sich fragen, warum das manchen Zeitgenossen zu langsam geht. "Kinder aus Akademikerhaushalten", liest man im Standard-Bericht, "schaffen noch immer deutlich häufiger selber einen akademischen Abschluss als Kinder aus anderem Milieu." Noch immer also. Die feinen oder auch nicht so feinen Unterschiede gibt es also trotz konstatierbarer Fortschritte nach wie vor. Es soll sie aber nicht geben. Wie darf man sich das vorstellen? Worauf zielt der Wunsch? Soll die Schülerschaft an einer AHS gemäß den jeweiligen prozentuellen Anteilen der Herkunftsschichten zusammengesetzt sein, oder soll die Studentenschaft an den Unis gänzlich unabhängig davon sein, also gewissermaßen zufallsverteilt? Beides ist im Grunde machbar. Aber eben nur im Zuge eines politischen Kraftaktes, per Verordnung.

Solange die höheren Schulen und Hochschulen ihre Daseinsberechtigung daraus beziehen, dass ihre Benutzung bestimmte intelligente Leistungen voraussetzt und abverlangt, die potenziellen Benutzer aber in unterschiedlichen sozialen Schichten unterschiedliche Förderung erfahren, wird das Erwünschte von selber nicht eintreten.

Neue Art von "Klasse"

Der bisher konstatierbare, aber "noch immer" nicht ausreichende " Fortschritt" dürfte vermutlich auch nicht so sehr den Leistungen der Pädagogik zuzuschreiben sein als vielmehr einer soziologisch feststellbaren Annäherung der sozialen Schichten, dem allmählichen Verschwinden der klassischen Arbeiterschicht wie dem Verschwinden des Bildungsbürgertums. Vor diesem Hintergrund kann man dann das Auftauchen einer neuen Art von Klasse beobachten, die der US-Soziologe Charles Jencks einmal treffend als Cognitariat (Informationsarbeiter, Berater, Dienstleister etc.) bezeichnet hat und der man bildungspolitisch ohnehin weitgehend Rechnung trägt: Viele Wege führen zur Matura. Die AHS gibt es in mannigfaltigen Formen. Daneben das ORG, die HBLA, die HAK, die Studienberechtigungsprüfung, die Berufsreifeprüfung. Und: Jeder Lernweg kann quasiakademisiert erfolgen und zu einem entsprechenden quasiakademischen Grad führen. Offiziell ist der Bachelor ein solcher. Volksschullehrer/-innen sind BEd, Kindergärtner/-innen sollen es werden. Leutnante wurden seit Ende der 90er als Mag. (FH) ausgemustert, jetzt wieder nur als BA. Dazu kommt eine Vielzahl von neuen akademischen Titeln (MBA etc.) und dementsprechenden zumindest der Formulierung nach komplexen Kompetenzprofilen.

Man kann auch den Handwerksmeister akademisch adeln, wenn er sich's gefallen lässt. Die angepeilte Akademikerquote von vierzig Prozent ist also erreichbar. Nur: An der Einkommensverteilung wird sich deswegen nichts ändern. Das Cognitariat ist nämlich in sich noch einmal gespalten. Es gibt nach Jencks auch die Cognikraten. Wie die anderen heißen, mag der Leser erraten. (Alfred Schirlbauer, DER STANDARD, 30./31.3.2013)