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Brotverkäufer vor der al-Hussein-Moschee in Kairo.

Foto: REUTERS/Amr Abdallah Dalsh

Mit der Nachricht, dass 50 Touristen von einem Land in ein anderes reisen, lockt man normalerweise keinen Hund hinterm Ofen hervor, sollte man meinen: außer es sind iranische Touristen und das bereiste Land ist Ägypten. Gemessen an einigen ägyptischen Reaktionen braucht der Iran gar keine Atombombe, denn die gefährlichste Waffe führen alle Iraner gleichermaßen im Gepäck – ihren schiitischen Glauben.

Seit dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011 bemüht sich vor allem Teheran um eine Annäherung zu Ägypten, mit dem seit der iranischen Islamischen Revolution 1979 die Beziehungen im Argen lagen. Wie schon öfter hier geschrieben, Gründe gab es mehrere: Anwar al-Sadats Freundschaft zum Pahlavi-Schah, dem er auch Exil in Kairo gewährte (wo Mohammed Reza Pahlavi auch begraben liegt, in der Nähe seiner angeheirateten Verwandtschaft, der ägyptischen Königsfamilie, aus der seine erste Frau, Prinzessin Fawziya, stammte), der ägyptische Friedensschluss mit Israel, die Benennung einer Straße in Teheran nach Sadats Mörder Khaled Islambuli und anderes mehr ...

Nun hat sich Präsident Mohammed Morsi nicht so von den Iranern umarmen lassen, wie sich diese das gewünscht hätten - mit dem politischen Ziel, den republikanischen Islamisten Morsi ein wenig von den Golfmonarchien wegzubringen. Aber einige Schritte zur Annäherung wurden doch gesetzt: So wurde etwa ein Tourismusabkommen geschlossen, und Teheran hat vor ein paar Tagen die Visumspflicht für Ägypter aufgehoben. Die ersten iranischen Touristen wurden nun am Sonntag direkt in Luxor abgesetzt. Die Iraner werden ja auch nicht müde darauf hinzuweisen, dass sowohl Ägypten als auch Iran Träger alter Hochkulturen sind. Mit einem Wort: Wir waren schon etwas, als auf der arabischen Seite des Persischen Golfs noch nichts war! Die große vorislamische Vergangenheit - im Islam Jahiliya, Zeit der Ignoranz, genannt - kommt ganz recht, um den Golfarabern das hineinzudrücken.

Salafisten ohne Zügel

Aber einiges ist in Ägypten seit Mubarak nicht nur gleich geblieben, sondern noch ärger geworden, nämlich die antischiitischen Ressentiments, die aus dem sunnitisch-salafistischen Diskurs stammen, dem nun keine Zügel mehr angelegt sind. Schiiten sind danach nicht nur Muslime, die den rechten islamischen Weg verlassen haben (vor fast 1400 Jahren), sondern sie sind auch für eine gute sunnitische Umwelt gefährlich. Manche ägyptische Salafisten verlangen deshalb, den iranischen Touristen überhaupt nur Zutritt zu den altägyptischen Stätten, aber nicht zu Moscheen und islamischen Einrichtungen zu gewähren. Besonders Moscheen, die in irgendeiner Beziehung zu Mitgliedern der Prophetenfamilie stehen, sollen für die Iraner versperrt bleiben: Die Schiiten, deren Imame ja Nachkommen Muhammads waren, könnten sie für sich beanspruchen, wird befürchtet. Besonders ist damit natürlich die al-Hussein-Moschee in Kairo gemeint (Hussein war Sohn von Ali bin Abi Talib und Muhammads Tochter Fatima und wurde 680 in der sunnitisch-schiitischen Schlacht von Kerbala getötet).

Es ist eine Hysterie, der nicht nur in Ägypten, sondern auch in anderen sunnitischen Staaten grassiert. Und sie straft alle - besonders im Iran gepflegten, wo man sich den Schiitenhass in der sunnitischen Welt schönreden will - Verschwörungstheorien Lügen, dass der sunnitisch-schiitische Konflikt eine Erfindung des Westens oder gar der Zionisten sei, um die Muslime zu spalten. Die Spaltung, die besorgen die Muslime schon selbst.

Sie trägt manchmal seltsame Blüten. Der libysche Großmufti hat etwa vor kurzem ein Gesetz gefordert, das libyschen Frauen verbieten soll, ausländische Männer zu heiraten: Die große Gefahr drohe, dass diese Frauen Schiiten auf den Leim gehen, deren Projekt sei, Libyen zu schiitisieren. Auch vom Projekt der Schiitisierung Syriens sind manche Sunniten, auch in Staatskanzleien, völlig überzeugt - was mit ein Grund dafür ist, den sunnitisch geprägten Aufstand gegen Assad, den Alawiten, zu unterstützen. Als abschreckendes Beispiel wird oft die syrische Stadt al-Raqqa auf der nördlichen Seite des Euphrat genannt. Dort befindet sich der Schrein von Ammar bin Yassir, einem Prophetengefährten, den die Schiiten als einen von vier Männern verehren, die Muhammads Schwiegersohn und Cousin Ali bin Abi Talib - dem ersten Imam der Schiiten ­- besonders treu zur Seite standen. Ammar wurde 657 in der sunnitisch-schiitischen Schlacht von Siffin getötet, wo heute al-Raqqa liegt. Der Ort ist ein beliebtes schiitisches Wallfahrtsziel ­- und mit der Zeit siedelten sich Schiiten an, und es gab natürlich auch Konversionen.

Präzedenzfall Irak

Das ist nichts Ungewöhnliches: Entlang den Pilgerrouten zu den heiligen schiitischen Städten Najaf und Kerbala im Irak und in diesen Städten selbst konvertierten über die Jahrhunderte viele Sunniten, auch ganze sunnitische Stämme, aus rein pragmatischen Gründen zur Schia. Es war einfach praktischer, den gleichen Glauben zu haben wie seine Gäste. Was nicht heißen soll, dass nicht viele auch davon überzeugt waren, dass die Schiiten mit ihrer Treue zur Familie des Propheten auf dem rechten Weg waren. Aber die ländlichen irakischen Schiiten werden jedenfalls von vielen Iranern bis heute als nicht ganz voll genommen.

Man kann durchaus annehmen, dass die heutigen sunnitischen Ängste vor der Expansion der Schia genau im Irak begründet liegen. Im 19. Jahrhundert waren die Sunniten ganz eindeutig die Mehrheit im Irak, besonders in den osmanisch geprägten Städten. Wenn man einem Bagdader zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesagt hätte, dass die Stadt einmal eine schiitische Mehrheit haben würde, hätte er wahrscheinlich laut aufgelacht. Im Bagdad vor dem Ersten Weltkrieg gab es mehr als doppelt so viele Juden (40.000) wie Schiiten (15.000) - die Sunniten zählten 120.000. Die Demografie der irakischen Hauptstadt änderte sich durch den Zuzug vom Land, wobei sich General Qassim 1958 bis 1963 mit der Errichtung von al-Thaura-City (Revolutionsstadt, später Saddam-City, heute Sadr-City) und der Ansiedlung der meist schiitischen Landflüchtlinge eine Hausmacht zu schaffen hoffte. Von da an nahm die schiitische Bevölkerung rasant zu. Saddam Hussein hielt als Diktator die schiitische Mehrheit noch unter einem brutalen Deckel - der seit 2003 offen ist. Offenbar war das ein größeres Trauma für die sunnitische arabische Welt, als man damals verstand.

Ägypten hat sein ganz eigenes Schiiten-Trauma: Die Dynastie der Fatimiden, die vom 10. Jahrhunderts bis 1171 in Nordafrika herrschte, war ismailitisch: Die Ismailiten sind Schiiten, die sich allerdings von der Hauptgruppe nach dem sechsten Imam abtrennten (sie erkannten nicht Moussa al-Kadhim als 7. Imam an, sondern dessen Bruder Ismail, daher der Name). Tabubehaftet ist in Ägypten die Tatsache, dass Al-Azhar - heute die bedeutendste sunnitische Institution - als fatimidische Gründung einstmals ein Hort der ismailitischen Lehre war. Die Fatimiden wurden übrigens von Saladin gestürzt, der auch heute noch in antischiitischen Schriften als Retter herbeigesehnt wird.

Sufismus und Brauchtum

Schiitisches Erbe hat in der ägyptischen Volkstradition und im Sufitum überlebt – ein Grund, warum ägyptische Salafisten so einen besonderen Hass gegen Sufis hegen. Man könnte auch sagen, in Ägypten wird die Schia noch immer als Teil des eigenen Systems bekämpft.

Das alles soll nicht heißen, dass es keine schiitische Mission gibt: Unter dem Motto, dass die Hizbollah, die Partei Gottes, triumphieren wird (Koran Sure 5, Vers 56), gibt es eine schiitische Mission, die vom Iran unterstützt wird. Sie fällt auch durchaus auf fruchtbaren Boden, etwa bei türkischen sunnitischen Muslimen (auch in Deutschland), wie überhaupt bei Konvertiten.

In islamischen Ländern werden zur Schia übergetretene Sunniten von ihren Gemeinschaften oft böse abgestraft. Ein Fall ist der Ägypter Mohamed Asfur, der im Vorjahr zu drei Jahren (in der Berufung ein Jahr) Gefängnis wegen "Beleidigung der Prophetengefährten" verurteilt wurde (die beiden Gemeinschaften werfen sich noch immer an den Kopf, welcher Zeitgenosse Muhammads sich wie verhalten hat ... ein Objekt der schiitischen Ablehnung ist auch die Prophetengattin Aisha). Asfur, aus Tanta im Nildelta, war ursprünglich sogar ein Salafist, bevor er sich zur Schia bekehrte. Nach eigenen Angaben gab es daraufhin eine Schmutzkampagne gegen ihn, auch seine Frau wurde von ihren Eltern gezwungen, sich von ihm scheiden zu lassen. Die Kampagne gipfelte in einer Anzeige und der Haftstrafe.

Ashura in der Imam Hussein Moschee

Völlig freie Religionsausübung ist den Schiiten in Ägypten verwehrt: Die Errichtung von Husseiniyas - Zelte, in denen des Martyriums von Hussein gedacht wird - ist ein ständiges Thema der Erregung, obwohl niemand so recht sagen kann, wo denn solche stehen. Manchmal haben schiitische Aktionen allerdings auch den Geruch der Provokation: Im Dezember 2011 versuchten ägyptische Schiiten in der - sunnitischen - al-Hussein-Moschee Ashura, das Gedenkfest des Namensgebers, zu feiern - der ja laut islamischer Geschichte von Sunniten umgebracht wurde.

Es gibt Schiiten in Ägypten - etwa Tahir al-Hashimi, Mitglied der internationalen schiitischen Organisation "Ahl al-Bayt World" (mit Ahl al-Bayt, Leute des Hauses, ist die Familie Muhammads gemeint) -, die offen zugeben, dass die Schiiten missionieren. Tahir al-Hashimi fragt aber völlig zu Recht, warum das Schiiten verwehrt sein sollte, Wahhabiten etwa aber nicht. Die Wahhabiya ist die im 18. Jahrhundert entstandene lokale Variante des Salafismus auf der Arabischen Halbinsel, dem späteren Saudi-Arabien: in der Geschichte in Ägypten demnach weniger verankert als die Schia. Die Zahl der Schiiten in Ägypten wächst laut Hashimi: Geschätzt wird sie auf zwischen 800.000 und zwei Millionen - bei einer Bevölkerung von mehr als 80 Millionen Menschen. Die Anzahl der Schiiten dürfte demnach nicht dramatischer wachsen als die ägyptische Gesamtbevölkerung. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 4.4.2013)