Im Atelier am Magdalensberg: Manfred Bockelmann mit seinen großformatigen Porträts jugendlicher NS-Opfer.

Foto: Manfred Bockelmann

Zeigt die Porträts ab 17. Mai im Leopold-Museum: Manfred Bockelmann, der Bruder von Udo Jürgens.

Foto: Standard/Heribert Corn

Diethard Leopold, Sohn des Sammlers Rudolf Leopold, hatte im Sommer 2010, nach dem Tod seines Vaters, einen Paradigmenwechsel in Restitutionsfragen angekündigt. Er sprach von "moralischer Verpflichtung" . Doch davon ist nicht viel zu merken: Die Stiftung Leopold lässt zwar Kunstwerke versteigern, um Vergleiche finanzieren zu können, sie weigert sich aber weiterhin, in der NS-Zeit geraubte Kunst zu restituieren.

Und nur zögerlich werden die Provenienzen erforscht. Die Angewandte und die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) zum Beispiel geben demnächst Gemälde von Jehudo Epstein an deren Erbin zurück; im Leopold-Museum hingegen hat man die Geschichte der vorhandenen vier Epstein-Bilder nicht einmal recherchiert. Das Haus, von IKG provokant "Raubkunst-Museum" genannt, ist aber zumindest um einen Imagewandel bemüht: Ab 17. Mai zeigt man die beklemmende Porträtserie Zeichnen gegen das Vergessen von Manfred Bockelmann. Der Kärntner Maler weiß bereits ganz genau, was er in welchem Saal wie hängen will; offiziell fungiert als Kurator Diethard Leopold.

STANDARD: In den letzten Jahren ist die Serie "Zeichnen gegen das Vergessen" entstanden. War tatsächlich Ihr 70. Geburtstag, den Sie am 1. Juli feiern, der Anstoß, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen?

Bockelmann: Ich wollte immer etwas machen über den Holocaust. Aber ich habe mich außerstande gesehen, weil ich kein Zeuge bin. Dass ich als Künstler keinen Zugang finde, hat mich deprimiert. Und vor drei Jahren habe ich mir gedacht: "2013 wirst du 70. Das fehlt dir grad noch, dass du zu einer umfassenderen Ausstellung eingeladen wirst!" Ich habe mir das wie eine Pensionierung vorgestellt: Einmal wird einem noch etwas Gutes getan, man kriegt eine Ausstellung - wie andere eine goldene Uhr. Ich dachte mir: Man müsste etwas Sinnvolles machen, ein Zeichen setzen. Ich dachte über mein Geburtsdatum 1943 nach: Was ist mit all den Kindern passiert, die, als ich zur Welt kam, vernichtet wurden? Wenn ich Fotos von den Opfern bekäme, dann könnte ich diese vielleicht porträtieren. Anfangs habe ich nur an meinen Geburtsort Klagenfurt gedacht. Aber da bin ich nicht weitergekommen. In Kärnten gab es nicht viele Juden. Und dann fand ich ein Buch über die Kinder in Auschwitz. Da waren auch erkennungsdienstliche Fotos der SS abgebildet: Jugendliche von vorn, von der Seite und im Halbprofil. Sie wurden nur deshalb fotografiert, weil man sie für den Arbeitsdienst verwendet hat. Als ich diese "Passbilder" sah, nahm ich mir vor, zunächst zehn zu zeichnen - in der Größe 150 mal 110 Zentimeter. Und erst dann wollte ich entscheiden, ob ich weitermache.

STANDARD: Und?

Bockelmann: Als sie in meinem Atelier am Magdalensberg hingen, stellte ich fest, dass sich die Porträts voneinander unterscheiden. Obwohl keine oder keiner mehr Haare hat, obwohl jeder und jede dasselbe anhat: Alle sind eigenständige Persönlichkeiten. Meiner Frau und meiner Tochter hatte ich nichts gesagt, denn ich wollte nicht, dass sie schon im Vorhinein sagen: "Manfred, das kannst du nicht machen!" Aber nun habe ich ihnen die Porträts gezeigt, und die beiden waren betroffen.

STANDARD: Die Porträts haben auch aufgrund der Größe eine ziemliche Wucht.

Bockelmann: Ja, ich wollte ein Format, das sich selbst Raum schafft. Ich wollte schon mit der Größe zeigen, wie wichtig mir das Thema ist. Ursprünglich habe ich Leinwand verwendet. Aber Jute eignet sich besser. Jute ist gröber, daraus sind auch die Kartoffelsäcke. Und Kohle ist ein archaisches Zeichenmaterial. Viele der ersten Höhlenmalereien sind mit Kohle entstanden. Schon nach zwei, drei Wochen merkte ich, dass ich von dem Thema nicht mehr wegkomme. Denn mit jedem Bild, das ich zeichne, hole ich jemanden aus der Anonymität der Statistik heraus. Er taucht wieder auf: Er hat ein Bild, einen Namen und eine - zumindest kurze - Biografie.

STANDARD: Auf einem Ihrer Porträts steht zum Beispiel: "Maria Skotuikova mit der Nummer 25547 wurde am 20. November 1942 mit einem Sammeltransport nach Auschwitz deportiert."

Bockelmann: Mehr weiß man von ihr nicht. Ich weiß daher auch nicht, wann sie gestorben ist. Für mich ist aber ganz wichtig, dass ich zumindest einen Namen habe. Das Ziel des Regimes war es, diese Menschen auszulöschen. Sie sollten nicht mehr existieren, auch nicht in der Erinnerung. Sie sollten zur Gänze vernichtet werden. Ich aber hole sie mit meinen Zeichnungen zurück. Das ist für mich eine Befriedigung.

STANDARD: Bleibt nicht auch bei einem Foto die Erinnerung?

Bockelmann: Es macht einen Unterschied, ob ich ein Foto vergrößere, oder ob ich ein Bild zeichne. Viele haben tausende Fotos im Handy, Fotos löscht man wieder, Fotos wirft man weg. Aber seltsamerweise: Bilder bleiben. Nicht einmal die Nazis haben die Bilder, die sie als "entartet" bezeichnet haben, vernichtet. Deshalb ist diese Kunst auch in hohem Maß erhalten geblieben. In Bildern steckt eben viel Arbeit. Ich glaube, dass man das honoriert. Darauf baue ich. Später sieht vielleicht jemand diese Bilder und sagt: "Das darf nie mehr passieren." Nur darum geht es mir. Ich rede jetzt viel, aber wenn diese Arbeiten einmal hängen, brauche ich nichts mehr sagen.

STANDARD: Wie wählen Sie die Bilder aus?

Bockelmann: Ich zeichne keine Leichenberge. Das sind Bilder, die wir schon in uns haben. Damit erreiche ich nichts. Ich will auch keine verhungernden Kinder zeichnen. Sie magern innerhalb weniger Monate enorm ab, irgendwann schauen sich alle sehr ähnlich. Schrecklich. Sie verlieren ihre Individualität durch den Hunger. Nein, ich will junge Menschen porträtieren, bevor für sie dieses Martyrium beginnt.

STANDARD: Sie haben bereits den Transport hinter sich. Hat das Martyrium nicht schon begonnen?

Bockelmann: Das stimmt natürlich. Was das für eine Erniedrigung ist: Ihnen, auch den Mädchen, werden unmittelbar nach dem Transport die Haare weggeschnitten - und dann werden sie auch noch fotografiert. Man merkt an all dieses Bildern: Diese jungen Menschen sind entwurzelt, sie wissen nicht, wo ihre Eltern sind und was auf sie zukommt. Da ist sehr viel Angst.

STANDARD: Aber nicht alle Porträtierten tragen Häftlingsgewänder.

Bockelmann: Es gibt mehrere Gruppen: Die Kinder, die in Auschwitz fotografiert wurden. Dann die Euthanasie-Opfer, also die Kinder, die am Spiegelgrund gestorben sind. Gestorben ist falsch: Die wurden alle ermordet, auch wenn in der Regel als Ursache "Lungenentzündung" auf dem Totenschein steht. Dann die Kinder der Sinti und Roma. Sie wurden von der Gestapo zum Fototermin vorgeladen und haben ihr bestes Gewand an. Die jüdische Bevölkerung ist natürlich die größte Gruppe, die Zahl der Opfer ist unvergleichlich. Ich habe bisher ungefähr 120 Bilder gezeichnet. Wenn ich sie in der Relation der Opferzahl zeichnen würde, hätte ich bis jetzt wahrscheinlich nur ein Roma-Kind zeichnen dürfen. Und von den anderen Gruppen gar keines. Aber von den jüdischen Kindern gibt es fast keine Bilder. Denn sie wurden in der Regel vergast, ohne vorher fotografiert zu werden.

STANDARD: Wie gehen Sie da vor?

Bockelmann: Jeder durfte einen Koffer mitnehmen. Das war eine psychologische Maßnahme, damit die Menschen nicht in Panik geraten. Denn wenn sie nichts mitnehmen dürfen, wissen sie, dass sie sterben sollen. Aber wenn sie etwas mitnehmen dürfen, haben sie das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Die Koffer wurden ihnen natürlich sofort abgenommen. Was nimmt der Mensch mit, wenn er nicht viel mitnehmen darf? Schmuck. Und ein Familienalbum. Nach Kriegsende gab es Räume voller Alben. Keiner wusste, wenn die Fotos nicht beschriftet waren, wer in den Alben abgelichtet war. Aber es kommen jedes Jahr tausende Besucher nach Auschwitz. Und immer wieder entdeckt jemand in den Alben Angehörige. Die jüdischen Kinder zeichne ich von Fotos aus diesen Familienalben. Und ich zeichne sie etwas anders. Zwar auch mit Kohle, aber nicht auf dem weißen Grund der Jute, sondern auf der bräunlichen Rückseite. Das erinnert an ein vergilbtes Foto. Denn es gibt einen großen Unterschied: Diese Kinder wurden von ihren Angehörigen fotografiert, sie schauen also nicht ihre Mörder an, haben einen ganz anderen Gesichtsausdruck.

STANDARD: Sie bauen die Bilder in Linien auf. Warum?

Bockelmann: Die Parallelität der Linien ist generell ein formales Prinzip meiner Arbeit. Vor etwa 15 Jahren habe ich begonnen, aufgefaltete Zeitungsblätter mit Linien zu bemalen. Ich verwende Pinseln in verschiedenen Stärken und Druckerfarbe, in Wasser gelöst. Was passiert da? Diese Linien sind Überlagerungen, es kommt zu einer Beerdigung von Informationen. Manchmal kann man noch etwas erkennen, Bilder, einzelne Wörter oder Textfragmente, aber eigentlich bleiben nur die Schlagzeilen übrig. Es geht mir um die Informationsfülle, die wir nicht verarbeiten können. Ich nenne diese Serie Horizonte. Denn der Horizont ist die Grenze unserer Wahrnehmung. Die Blätter erinnern auch an eine Jalousie, die man herunterlässt. Wir wissen gar nicht, welche Informationen wir gespeichert oder was wir verdrängt haben. Und das ist die große Gefahr: Die Geschichte wiederholt sich, weil die Menschen vergessen.

STANDARD: Gerade die Folgen des Nationalsozialismus werden gerne verdrängt.

Bockelmann: Aus einem Schamgefühl, das meine Generation vielfach hat. Weil sie weiß, dass die Elterngeneration den Holocaust letztendlich verbrochen hat. Sie hat Hitlers Aufstieg ermöglicht. Ich komme aus einem speziellen Land: Kärnten. Ich wurde 1949 eingeschult, ich hab überhaupt nichts erfahren über den Nationalsozialismus, meine Lehrer waren durch die Bank Nazis. Als Bürgermeister von Ottmanach war auch mein Vater Parteimitglied.

STANDARD: Ihr Vater hatte das Gut 1928 mit dem Geld und im Auftrag Ihres Großvaters gekauft. War er ein Nazi aus Überzeugung?

Bockelmann: Meine Eltern haben all die "entarteten" Schriftsteller gelesen, Tucholsky zum Beispiel. Die Bücherverbrennungen dürften sie enorm irritiert haben. Und sie haben meinem ältesten Bruder, John, der natürlich bei der Hitlerjugend war, den Hitlergruß im Haus verboten. Das war gefährlich, denn wir hatten ja Personal. Man musste immer aufpassen, was man sagte. Mein Vater hat mir später zwar erklärt, dass die Nationalsozialisten ein Verbrecherregime waren. Aber auf meine Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, hatte er keine befriedigenden Antworten. Er sagte nur: "Wir wurden getäuscht." Das stimmt aber so nicht! Wenn man sich die Mühe macht, Mein Kampf zu lesen: Hitler hat von Anfang an nichts verborgen. Es gibt da keine Entschuldigung. Natürlich: Es gab eine hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, es gab Hunger und Elend. Ich kann verstehen, dass man Hitler anfangs hinterhergelaufen ist. Aber irgendwann muss man gemerkt haben, dass er ein wirklicher Verbrecher ist. Im März 1938 war der Anschluss. Die Österreicher wussten genau, wer da kommt. Die Elterngeneration kann sich nicht so leicht darauf hinausreden: "Wir haben ja nicht gewusst, dass ..."

STANDARD: Auch wenn Ihre Eltern den Hitlergruß daheim nicht tolerierten: Ihr Vater blieb in der NS-Zeit Bürgermeister.

Bockelmann: Ja. Am Ende wurde er aber eingesperrt und mit dem Tode bedroht. Das Kriegsende hat ihn gerettet.

STANDARD: Warum wurde er inhaftiert?

Bockelmann: Weil er die Familie aus Sicherheitsgründen nach Deutschland, ins vermeintliche Zentrum des "Tausendjährigen Reiches", gebracht hat. Denn nachts gab es immer wieder Überfälle von slowenischen Partisanen. Sie griffen natürlich nicht irgendwelche Bauern an, sondern Parteimitglieder oder Deutschstämmige. Mein Vater war daher ein Feindbild, das konnte er sich ausrechnen. Und unser Hof liegt im zweisprachigen Gebiet von Kärnten. Aber wenn man als Bürgermeister die Familie wegbringt: Das war natürlich eine miserable Optik. Er kam also in Gefangenschaft. Und das hat ihn später entlastet. Er blieb Bürgermeister, insgesamt war er es etwa 25 Jahre.

STANDARD: Sie gingen 1962, mit 19 Jahren, nach Graz auf die Kunstgewerbeschule. Wollten Sie Maler werden - oder Fotograf?

Bockelmann: Am Anfang war schon die Malerei. Aber 1966, als ich nach Deutschland ging, hat niemand auf mich als Maler gewartet. Mit der Fotografie konnte ich jedoch sofort Fuß fassen. Ich hatte schon immer ein Faible für die Fotografie. Ich fotografiere auch jetzt. Der Fotograf zwingt mich, meine Umgebung wahrzunehmen, immer genau hinzuschauen. Und davon profitiere ich als Maler. Würde ich nicht fotografieren, wäre mein Blick zu stark nach innen gerichtet. Denn die Malerei ist immer die Summe von Erlebnissen. Und die Fotografie ist immer der Augenblick, das Erlebnis. Das ist der große Unterschied.

STANDARD: Sie arbeiteten als Fotoreporter, brachten einen Bildband über Friedensreich Hundertwasser heraus. Und dann begannen Sie zu malen. In den letzten Jahren wurde es aber still um Sie. Warum?

Bockelmann: In den 1980er-Jahren hatte ich sehr viele Ausstellungen. Meine großen, weiten, stillen Landschaften haben mich ernährt. Und die Leute haben von mir erwartet, dass es immer so weitergeht. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich mich zu kopieren anfange. Ich habe mich daher herausgenommen aus dem Kunstbetrieb und andere Sachen gemacht, mich der Bildhauerei und der dinglichen Zeichnung zugewandt.

STANDARD: Stimmt es, dass Ihr Bademantel den Anstoß dazu gab? Sie malten ihn ab.

Bockelmann: Aber nur, weil er gestreift war. Wenn ich den Bademantel hinschmeiße, verwursteln sich die Streifen. Und die Streifen beschreiben mir den Bademantel, wie er eben liegt. So kam ich zum Dinglichen. Ich habe auch angefangen, Bäume zu zeichnen. Ich habe sie porträtiert wie später die Menschen.

STANDARD: Ist es nicht schwierig, ein Porträt zu zeichnen, wenn man nur mit horizontalen Strichen arbeitet?

Bockelmann: Die Umrisse des Gesichts skizziere ich schon. Und dann beginne ich das Bild zu beschreiben, Linie für Linie. Für mich gibt es einen zentralen Moment, wenn die Augen fertig sind, wenn mich dieser Mensch anschaut. Und wenn ich die Persönlichkeit erkenne, dann ist das weitere Zeichnen kein Problem mehr. Bei jedem Porträt muss der Moment kommen, wo ich mir sage: Jetzt kenne ich diese Person. Durch dieses Kennenlernen bin ich viel stärker involviert. Das hat mich zum Teil auch gequält.

STANDARD: Weil all diese Menschen sterben mussten?

Bockelmann: Ja. Das Schicksal des Einzelnen belastet mich enorm. Am Anfang habe ich, weil ich Angst hatte zu versagen, alles andere gezeichnet: den Hintergrund, die Bekleidung, die Haare. Wenn ich allerdings keinen Bezug finde, wird das Bild nichts. Dann war die Arbeit umsonst. Daher beginne ich jetzt immer mit dem Gesicht.

STANDARD: Sie haben diese Fotos sozusagen beseelt. Haben Sie auch Charakterzüge verstärkt?

Bockelmann: Nein. Aber es gibt eine Ausnahme. Die Sinti und Roma haben auf den Fotos noch ihre Haare. Bei einem Buben waren die Strähnen wie bei einem Clown. Das habe ich ein bisschen zurückgenommen. Denn es hätte sonst ausgesehen, als würde ich mich über ihn lustig machen. Die Haare sind generell, wie die Kleidung, Äußerlichkeiten. Sie lenken ab. Am eindringlichsten sind die Bilder aus Auschwitz. Weil eben die Attribute wie Frisur oder Kleidung wegfallen. Da geht es nur um das Gesicht.

STANDARD: Sie zeigen die Bilder nun im Leopold-Museum. Haben Sie Angst vor Kritik?

Bockelmann: Ja und nein. Ich glaube, dass ich den Opfern gerecht werde. Und ich hatte schon eine Begegnung mit einem Überlebenden, einem Kroaten. Er kam nach Mauthausen, als 14-Jähriger wurde er befreit. Er wanderte nach Kanada aus, baute sich dort sein Leben auf. Irgendwann wollte er noch einmal die Orte seines Martyriums besuchen. Er war auch in der Klagenfurt. Professor Peter Gstettner, mit dem ich zusammenarbeite, rief mich an: "Manfred, ich möchte dich mit einem Überlebenden besuchen." Und so kam der Kroate zu mir ins Atelier, wo immer die zuletzt gezeichneten Porträts hängen. Vor einem Bild blieb er stehen. Er erkannte sich als Kind. Er verstand nicht, wie es möglich ist, dass ein ebenfalls älterer Mann ohne Auftrag, aus eigenem Antrieb zeichnet - und auch ohne kommerzielle Erwägungen. Ich verkaufe diese Bilder ja nicht. Er nahm mich in die Arme. Ich kann das nicht beschreiben, aber da war eine solche Zuneigung. Eine hohe Entlohnung.

STANDARD: Es sind also nicht alle gestorben.

Bockelmann: Ja, glücklicherweise hat das Kriegsende manche verschont. Als ich das letzte Mal in Auschwitz war, habe ich in der Forschungsabteilung meine Alben mit den Porträts hergezeigt. Plötzlich zeigt einer auf eines und sagt: "Der war gestern hier! Der lebt in Krakau und kommt oft hierher, er spricht mit jungen Leuten über seine Zeit im KZ." Ich hoffe, dass ich ihn heuer treffen kann.

STANDARD: Sie machen weiter?

Bockelmann: Ich werde das machen, solange ich kann. Ich werde nicht aufhören. Ich möchte, dass die Bilder als Block zusammenbleiben. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass das, was ich als Künstler mache, wirklich Sinn hat. Zwischendurch sagt man sich: "Meine Güte, jetzt habe ich schon so viele Bilder gemalt. Ob ich jetzt noch eines mehr oder weniger male, ist doch völlig egal." Aber seit ich diese Porträts zeichne, stelle ich mir nicht mehr die Sinnfrage.

STANDARD: Ihr Bruder hat Sie im Lied "Mein Bruder ist ein Maler" beneidet. Ist seine Hochachtung jetzt, nachdem er diese Porträts gesehen hat, noch einmal gestiegen?

Bockelmann: Er war sehr bewegt. Udo hat eine hohe Meinung von mir. Das macht mich glücklich. Denn ich bin ja eigentlich der kleine Bruder. (Thomas Trenkler, Album, DER STANDARD, 6./7.4.2013)