Leo Hemetsberger, Philosoph und Unternehmensberater.

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Wir sahen am Beispiel einiger philosophischer Positionen, dass die Ausformung und Förderung von Talenten wichtig für ein gutes Leben ist. Wer, wenn nicht die Bildung ist dazu aufgerufen, die Talente unserer Kinder zu entwickeln. Mag man das zugehörige System auch unter dem Aspekt der Absicherung bestehender Herrschaftsverhältnisse kritisieren, so kommen wir doch nicht ohne Bildung der Allgemeinheit qua Individuen aus, wenn wir unsere Standards halten können wollen. Sofern haben die pädagogisch-philosophischen Bemühungen innerhalb dieses Konditionierungsunterfangens die Funktion der Orientierungsdisziplin, im Spannungsfeld von Kategorisierung und Rekonstruktion. Dazu ist Bildung notwendig.

Betrachten wir den Zustand der aktuellen Umsetzung, Stichwort Pflichtschule, so tun sich große Widersprüche zwischen Wunsch und Wirklichkeit auf. Hier werden einerseits die letzten ideologischen Schlachten geschlagen, denn man erhofft so die Zukünftigen mit den eigenen Botschaften zu erreichen. Andererseits  wird in der Schule selbst ein zu starker Fokus auf Schwächen gelegt. So entgleiten die Talente oft, weil sie neben dem "notwendigen Schwächen ausmerzen" zu wenig unterstützt werden. Wer sollte sich auch über das Maß hinaus verbessern wollen, wenn man nur drauf schaut, dass alle überall durchschnittlich werden? Talent hängt von vier Faktoren ab: der genetischen Disposition, dem gesellschaftlichen Umfeld, der Eigenmotivation und dem Zufall (Mihalski Csikzentmihalyi: Talented Teenagers: The Root of Sucess and Failure. Cambridge, Univ Pres. 1993). Drei dieser vier Bereiche kann "geholfen" werden, das stimmt mich optimistisch.

Nachklingender Kanon des 19. Jahrhunderts

Die Bildungsinhalte zeigen sich heute immer noch fast wie vor 200 Jahren. Es gibt eine Wertigkeit der Fächer, und damit eine Beurteilung des Potentials der Schülerinnen und Schüler, die wie ein Rasenmäher über alle die unterschiedlich talentierten Blüten qua Köpfe fährt und eine Gleichmacherei bewirkt, die weder dem verblassten Ideal einer humanistischen Bildung noch den vielfältigen Anforderungen einer Ausbildung für die heutige oder zukünftig mögliche Arbeitswelt entspricht. Viele der Jobs, für die in fünfzehn Jahren zu wenig Personal vorhanden sein wird, gibt es heute noch gar nicht. Wie kann ein immer noch weitgehend starres Schulsystem darauf vorbereiten? Pisa hin oder her, bei den annähernd 20 Prozent funktionellen Analphabeten in Österreich, nach Beendigung der Pflichtschule, liegt das Problem wohl auch im Grundkonzept vergraben, und kann nicht nur auf die Pädagogen oder soziodemografische Veränderungsprozesse abgewälzt werden. Das heißt umgekehrt auch nicht, dass all die gescheiterten Pflichtschüler eigentlich verkappte Genies sind.

Nie mehr Schule?

Die Schulen entsprechen in ihrem Grundkonzept nach heute immer noch den Anforderungen der frühen industriellen Massenproduktion. Vorher gab es keine allgemeinen Bildungskonzepte. Ziel war es, die von der Subsistenzwirtschaft lebende bäuerliche Bevölkerung, die in großer Zahl in die Städte wanderte, durch Zwang und Standardisierung auf ein bestimmtes Niveau hin auszubilden, um sie für die Produktionsprozesse verwendbar zu machen - ungeachtet ihrer individuellen Talente.

Schüler sollen sich möglichst friktionsfrei in ein geordnetes Gefüge einpassen lassen, man will sie unter-richten, sie werden durch eine autoritativ-hierarchische Leitung, ein striktes Zeitschema und zentral vorgegebene Arbeitspensen in einem von der realen Lebenswelt isolierten Rahmen durch einen Leistungs- und Verhaltenskodex unter Androhung von Bestrafungen diszipliniert und sozialisiert, um sie zu möglichst reibungslos funktionierenden Entitäten in einer planerisch vorgegebenen sozialen und technischen Umwelt zu machen. "We don't need no education."

Ewiger Schulstress?

Zuerst lernt der Mensch gehen und sprechen, in der Schule stillsitzen und Maul halten.

Die meisten Eltern kapitulieren irgendwann vor dem System: "Geht's ihnen gut oder haben sie Kinder in der Schule?" Also bleibt nur: Augen zu, und sie nur irgendwie durch die Schule bringen?

Der Mensch erfährt die Welt nicht nur auf abstrakt kognitive Weise, worauf die Schule kompetitiv das größte Gewicht legt, sondern vor allem mittels der Sprache, dem räumlichen Vorstellungsvermögen, dem musikalischen Empfinden, mit Hilfe unseres Körpers als Bewegungsapparat, dem sozialen Verständnis und Verhältnis zu anderen Menschen, Situationen und Kulturen, sowie dem Verständnis unserer selbst (Andreas Salcher, Der talentierte Schüler und seine Feinde, nach Howard Gardner; Psych. Harvard, S. 38 ecowin Verlag 2008).

Was in den Sonderschulen an Fördermaßnahmen zum state of the art gehört, wird in der Regelschule bestenfalls von noch engagierten Lehrkräften angewendet. Im System, siehe Zeugnis, ist deren Effekt und Wertigkeit nicht verankert. Wenn diese Zugänge schon Benachteiligten helfen, welche Effekte könnten wir dann erst bei Hochbegabten erwarten? Wer kann nachweisen, dass Mathematik, Deutsch und Englisch generell wichtiger sind als Musik, Zeichnen, Turnen, Tanzen oder soziale Kompetenz. Was tun, wenn Schüler ein großes Talent in diesen Bereichen haben? Die Schule nimmt darauf nur mäßig Rücksicht, denn wer in den Hauptfächern versagt, so behauptet sie, scheitere auch im Leben. Nur bitte was hat Schule mit dem Leben zu tun? So gut wie gar nichts, weil das Schulsystem willkürlich Schwerpunkte festschreibt. Diese Regeln werden an Zwangsverpflichteten exekutiert, damit diese lernen, wie es angeblich, da draußen in der Welt, etwa in der Wirtschaft abläuft. Kein Wunder, wenn die kreativen und innovativen Köpfe nach der Schulzeit nicht mehr vorhanden sind, es wurde ihnen ja jahrelang abtrainiert.

Einmal Lehrer - immer Schüler?

Wie verläuft eigentlich der Karriereweg als Lehrperson? Zuerst ist man selbst Schüler in der Schule, dann Schüler in der Lehrerausbildung, dann viele Jahre Lehrkraft in der Schule und als Krönung zuletzt Lehrer in der Lehrerausbildung. Von dem Leben da draußen in der Wirtschaft haben sie keine Ahnung. Die große Ausnahme bilden hier die nicht sehr hoch geachteten Berufsschullehrer.

Natürlich kommt man um eine gewisse Standardisierung im Bildungssystem nicht herum, es gibt dazu ja schon seit vielen Jahren umfangreiche Versuche. Alles hängt am Ende von der Qualität und dem Engagement der Lehrperson ab. Wird die Reform gelingen? Wer einen näheren Blick auf den jahrzehntelangen Proporz und die de facto zwangsweise organisierte gewerkschaftliche Standesvertretung mit ihrem Klüngeldenken riskiert, möchte sich eigentlich nur resignierend abwenden. Es gibt auf Grund des Widerstands der Lehrergewerkschaft keine individuelle Evaluation von Pädagogenleistungen, wie es für jeden Trainer in der Erwachsenenbildung und beruflichen Weiterbildung ganz selbstverständlich ist. Wie wird man als engagierter Direktor einen schlechten Lehrer wieder los? Gar nicht. Das führt zu einer schleichenden Nivellierung nach unten, denn wieso soll sich jemand über das Maß hinaus anstrengen, wenn derjenige, der sich zwecks freizeitorientierter Schonhaltung möglichst wenig anstrengt, sich seiner erdienten Beamtenpension ebenfalls sicher sein kann? Die Zahl der Jugendlichen, die das Gefühl nicht los werden, man hätte sie in der Schule um Lebenszeit betrogen, nimmt weiter zu.

Wohin geht die Reise?

Wenn wir uns, was ja von allen Dächern gepfiffen wird, weiter hin zu einer Informations- und Wissensgesellschaft entwickeln wollen, was immer das auch sein mag, dann ist ein Richtungswechsel unumgänglich, besonders im internationalen und globalen Vergleich. In China graduieren jährlich 300.000 Diplomingenieure, in Deutschland 5.000. In Indien schlossen im Jahr 2005 200.000 IT-Wissenschaftler ihr Studium ab, in Deutschland arbeiten überhaupt nur 150.000 Menschen in diesem Bereich (Rolf Rüttinger, Talent Management, S.22, Verlag Recht und Wirtschaft, Frankfurt am Main). Aber die Quantität allein ist nicht ausschlaggebend. Unternehmen, die die Auslagerung von IT Dienstleistungen nach Asien zuerst als ultima ratio angepriesen hatten, kommen wieder nach Europa zurück, denn die vordergründige Kostenersparnis hat oft nicht zu den gewünschten qualitativen Ergebnissen geführt.

Europa hat in seiner Vielfältigkeit das Potential, aus sich selbst heraus zu wachsen, wenn wir unserer talentierten Jugend die Möglichkeiten dazu geben. Übrigens, wieso lernen unsere Kinder nicht ab dem zwölften Lebensjahr programmieren? Gute Beispiele dafür gibt es, wie z.B. www.codeacademy.com. Das ist zukunftsorientierter Unterricht. Wird fortgesetzt. (Leo Hemetsberger, derStandard.at, 15.4.2013)