Inge Hannemann kämpft gegen ein System.

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Hartz IV ist sein Name. Die deutschen Jobcenter haben im Jahr 2012 insgesamt 1.024.600 Strafen gegen Hartz-IV-Empfänger ausgesprochen.

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Inge Hannemann rüttelt an den Grundfesten des deutschen Systems. Als "Hartz-IV-Rebellin" ist sie derzeit in den deutschen Medien omnipräsent. Für die 44-Jährige - seit Mittwoch Ex-Mitarbeiterin des Jobcenters Altona in Hamburg - ist der Anlass eher unerfreulich. Sie selbst habe die Kündigung durch ihren Arbeitgeber noch nicht in Händen, sagt sie im Gespräch mit derStandard.at. Eine Redakteurin einer deutschen Tageszeitung habe sie allerdings bereits vorliegen. Der Anlass: Inge Hannemann hatte einiges an den Vorgängen im deutschen Jobcenter auszusetzen, und sie leistete Widerstand.

An ihrer Arbeitsstelle, im Jobcenter selbst, weigerte sie sich, Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger zu verhängen, ihnen die Leistungen noch weiter zu kürzen. Das System ist auch in Österreich in ähnlicher Form bekannt: Verletzt ein sogenannter Leistungsträger seine Pflichten, wird er bestraft. In Deutschland steht das im Sozialgesetzbuch II. Versäumt jemand also einen Termin beim Jobcenter, können seine Leistungen um zehn Prozent gekürzt werden. Will er oder sie eine vorgeschlagene Arbeitsstelle nicht annehmen, kann das Jobcenter die Leistungen um 30 Prozent kürzen, beim zweiten Mal sogar um 60 Prozent.

Leistungsträger als Sozialschmarotzer

"Der Leistungsträger als Sozialschmarotzer, so sieht es das System, so sehen es viele Jobcenter-Mitarbeiter", sagt Hannemann. Menschen, die man mit mehr oder weniger großem Druck systemkompatibel zu machen habe. "Die Kollegen und Kolleginnen befinden sich selbst in einer Zwangslage", ist sie überzeugt. Inge Hannemann hatte da eine andere Methode als die Kollegenschaft. Für sie stand positive Motivation im Vordergrund. Den entsprechenden Spielraum gab es in der Praxis sehr wohl.

"Hatte jemand keine Krankmeldung, konnte man ihn sanktionieren, das dauert rund zehn Minuten", sagt sie. "Ich konnte ihn aber auch noch einmal losschicken oder selbst beim Arzt anrufen, das dauert auch zehn Minuten." Auch beim Nichtverhängen von Sanktionen hielt sie sich streng an arbeitsrechtliche Vorschriften. Denn eigentlich gibt es für Arbeitsvermittler wie Hannemann zwar keinen Ermessensspielraum, doch wenn es gute Begründungen für eine Absage vorliegen, muss nicht sanktioniert werden.

Der Mensch hinter dem Fall

Hannemann wollte es mit Menschen zu tun haben und nicht mit Fällen. "Meine Quoten habe ich mit dieser Methode erfüllt", sagt die gelernte Speditionskauffrau und studierte Journalistin. Sie telefonierte, sie traf sich mit Menschen, sie hörte sich Schicksale und Hintergründe an und lieferte die Begründungen praktisch selbst mit. "Ich arbeite eben anders als andere." Kollegen will sie nicht kritisieren, sie hat das große Ganze im Visier. Das System an sich trägt für die Hamburgerin so etwas wie einen Konstruktionsfehler in sich. Gerhard Schröders "Agenda 2010" - für andere ein maßgeblicher Beitrag zur derzeitigen Wirtschaftsstärke Deutschlands - ist für Hannemann so etwas wie der Anfang vom Ende der Menschlichkeit, Hartz IV der Gipfel eines gewissermaßen seelenlosen Systems.

"Die Arbeitsmarktreformen haben zu mehr Beschäftigung und zu weniger Arbeitslosigkeit geführt", jubelte jüngst das Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Das Hartz-IV-System verstoße gegen das Grundgesetz, hält Hannemann dagegen. Ganz abgesehen von den entwürdigenden Bedingungen, die es für Arbeitslose bringe: "Die Sanktionen stellen für viele Menschen eine existenzielle Bedrohung dar. Man kann die Leistungen bis hin zu Obdachlosigkeit und Hunger herunterkürzen." Nicht alles will sie schlechtreden. Die Ein-Euro-Jobs etwa: Diese würden immerhin dafür sorgen, dass die Menschen Sozialkontakte und Strukturen haben. Ordentliche Jobs aber fänden die Betroffenen so kaum.

Steigender Druck

Seit 2005, dem Jahr, in dem die Hartz-IV-Gesetze in Kraft traten, arbeitet Hannemann in der Hamburger Sozialverwaltung. Die will sich übrigens in deutschen Medien nicht zu dem Fall äußern. Als sie sich für die Stelle bewarb, sei sie selbst in finanziellen Nöten gesteckt, sagt die alleinerziehende Mutter einer mittlerweile erwachsenen Tochter. Anfangs hat ihr die Arbeit auch ganz gut gefallen. Doch mit der Einführung der Sanktionen, mit dem steigenden wirtschaftlichen Druck, der auf den Jobcentern lastet, kamen ihr die Entwicklungen am Arbeitsmarkt und im Jobcenter zunehmend fehlgeleitet vor.

Arbeitssuchende mit sinnlosen Weiterbildungsmaßnahmen beschäftigen, massenhaft Stellen bei Leiharbeitsfirmen vermitteln, das wachsende Prekariat: Inge Hannemann gefiel vieles nicht, was sie sah, und sie hielt mit ihrer Meinung keineswegs hinter dem Berg. Seit zwei Jahren betreibt sie einen Internet-Blog und informiert über Rechte und Hintergründe in Hartz-IV-Fragen. Später gründete sie den Blog altonabloggt. Was sich da findet, ist massive Kritik an den Jobcentern, den Behörden, in denen als Teil der Hartz-IV-Reformen die Arbeit von Sozial- und Arbeitsämtern zusammengeführt wurde, um Langzeit-Erwerbslosen zu Arbeitsstellen zu verhelfen.

Es bewegt sich doch

Unter Beobachtung ihrer Arbeitgeber stand sie schon lange, wegen Aufwiegelung der Kollegenschaft. Am Montag wurde sie freigestellt. Es bestehe Zweifel, dass die Arbeit im Jobcenter noch nach rechtlichen Grundlagen geschehen könne, schrieb man ihr. Heute ist sie ohne Job, aber nicht ohne Unterstützung, wie Hannemann erklärt. Sie bekomme zahllose E-Mails mit Zuspruch, Unterstützungserklärungen und vor allem Nachrichten von Jobcenter-Kollegen, die ebenfalls am System verzweifeln und froh sind, dass sich jemand traut, das auch öffentlich zu machen: "Ein Kollege aus Berlin will jetzt auch einen Blog gründen", sagt sie. Dass ihre Tätigkeit auch ihrem Arbeitgeber nicht verborgen bleiben würde, sei ihr klar gewesen und durchaus auch Absicht.

Gegen ihre Entlassung will sie sich selbstverständlich wehren. Mundtot lässt sie sich nicht machen: "Es ist anstrengend, aber es bewegt sich was." Auch für den Fall, dass mit der Abschaffung des Hartz-IV-Systems das Unmögliche möglich werde, hat Hannemann eine Idee: "Ich sympathisiere mit dem unbedingten Grundeinkommen." (Regina Bruckner, derStandard.at, 25.4.2013)