Johannes Steyrer

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Zwei unbekannte Personen bekommen im Labor zufallsgesteuert entweder die Rolle eines Machtinhabers oder eines Untergebenen zugeordnet.

Der Mächtige erhält zehn Dollar und der Untergebene fünf Dollar als Ressource. Dann hat der Mächtige in einem getrennten Raum darüber zu entscheiden, ob er von seinem Kapital etwas für den Untergebenen herzugeben bereit ist. 71 Prozent tun das. Im Durchschnitt werden 1,33 Dollar gegeben. Menschen sind also altruistisch.

Im zweiten Experiment kann der Mächtige sowohl geben als auch einen Dollar wegnehmen. Jetzt sinkt der Anteil derjenigen, die geben, auf 35 Prozent (im Schnitt werden "nur" 0,33 Dollar geschenkt), und 20 Prozent der Mächtigen beanspruchen selbst den einen Dollar für sich.

Im dritten Experiment hat der Mächtige die Alternative zwischen freiwilligem Geben oder der Einforderung der fünf Dollar des Untergebenen. Jetzt machen nur mehr zehn Prozent ein positives Angebot (Logik: "Ich bin großzügig genug, wenn ich nichts nehme"), und 43 Prozent der Mächtigen konfiszieren die fünf Dollar (im Durchschnitt werden 2,48 Dollar weggenommen).

Wie ist das zu erklären? John Acton wird die Aussage zugesprochen: " Macht neigt dazu zu korrumpieren, und absolute Macht korrumpiert absolut." Menschen sind prinzipiell altruistisch, aber in Machtasymmetrien geht ihre Selbstlosigkeit zusehends verloren. Dann verschaffen sich die Mächtigen Vorteile auf Kosten der Ohnmächtigen. Für einen Dollar gefährden nur wenige ihr positives, altruistisches Selbstbild. Stehen fünf Dollar zur Disposition, bedienen sich doppelt so viele an den Ressourcen anderer.

Führung beeinflusst Geführte in asymmetrischen Beziehungen, um Organisationsziele zu erreichen. Macht im Sinne des Vermögens, Ergebnisse bewirken zu können, ist dabei immer im Spiel. Allerdings sind Machasymmetrien und Machtmissbrauch wechselseitig aufeinander bezogen: mehr Macht - mehr Missbrauch; mehr Missbrauch - mehr Macht. Intuitiv scheinen wir das zu spüren, denn in den sogenannten GLOBE-Studien wurde Managern aus 60 Ländern die Frage gestellt, welche Attribute sie mit einer idealen Führungskraft verbinden. An erster Stelle wurde " Integrität" genannt: Fairness, Redlichkeit, Verantwortlichkeit, Übereinstimmung von Worten und Taten.

Wie sehr Menschen unter Korruption leiden, hat auch der jüngste World-Happiness-Report gezeigt. Basierend auf repräsentativen Befragungen von 4,8 Milliarden Menschen ging es u. a. um gesellschaftliche Faktoren für Glück und Unglück. An erster Stelle stand die "soziale Unterstützung durch andere", gefolgt vom "Pro-Kopf-BIP" (bei Berücksichtigung eines abnehmenden Grenznutzens) und der " Gesundheit". Als viertwichtigster Faktor stellte sich "Korruption" heraus.

Management und Leadership

Die Führungsforschung war in den letzten zwei Dekaden vor allem mit der Frage beschäftigt, was die eigentliche Essenz von Führung sei. Zunächst wurde eine Demarkationslinie zwischen Management und Leadership gezogen. Der funktionalen wurde eine emotionale Autorität gegenübergestellt, statt Verwalten war Gestalten angesagt. Management habe sich, so die Lesart, auf die Kontrolle der physischen Ressourcen, des Kapitals, der Rohstoffe und Technologien einer Organisation zu konzentrieren.

Leader seien hingegen für deren geistige Ressourcen, für ihre Werte, ihr Engagement und ihre Erwartungshorizonte zuständig. Dann wurde die alte Führungsstildualität zwischen Mitarbeiter- und Aufgabenorientierung durch transaktionale und transformationale Führung ersetzt. Transaktionale Führung sei bloß ökonomisches Tauschgeschäft (Belohnung nach Zielerreichung), wohingegen transformationale Führung die Geführten auf höhere Ebenen der Bedürfnispyramide hieve, sodass sie begeistert kollektive Visionen verfolgen. "Performance beyond expectations" ward in Aussicht gestellt.

All das kulminierte in der Suche nach den Popstars der Macht, und im " Charisma" schien die Essenz gefunden.

Eine Essenz, die kein anderer als der Ex-Landeshauptmann von Kärnten, Gerhard Dörfler, treffender auf den Punkt brachte, als er nach dem Tod Jörg Haiders die apokalyptischen und glorifizierenden Worte sprach: "Die Sonne ist vom Himmel gefallen!" Wahrlich, die Sonne ist auch aus anderen Gründen vom Himmel gefallen, denn die Führungsforschung hat Charismaträger gesucht und, so zeigt es die Empirie, vor allem selbstverliebte Narzissten gefunden, die mit ihrem Gefühl der Überlegenheit und Einzigartigkeit, ihren glänzenden Erfolgen, ihrer Geltung, ihrem Reichtum, ihrer Macht und Schönheit all das zu haben scheinen, was Otto Normalverbraucher zu entbehren glaubt. Je stärker zu kurz gekommen, desto mehr hat er Anlass für Adoration und Akklamation (" O Silvia mio!").

Es ist an der Zeit, die Suche nach den großen "Zeitansagern" aufzugeben und im Handwerk - im "Uhrmachen" - die wahren Tugenden zu erkennen. Führung ist keine Einbahnstraße.

Die Asymmetrie zwischen "oben" und "unten" ist stets aufs Neue zu justieren. Sie ist lediglich Ausgangspunkt der Beziehung und hat kein dauerhaftes Fundament.

Führung ist wechselseitig und zirkulär, ein fortwährendes Hin und Her zwischen Führen und Geführtwerden. Hans Rudi Fischer beschreibt das mit einer Tango-Metapher. Die Grundregel lautet: "It takes two to tango!" Im traditionellen Tanz gibt es einen Herrn, der führt, und eine Dame, die sich führen lässt. Dazu heißt es in der Fledermaus-Quadrille: "Der Herr voraus, der Herr voraus, die Dame hinterdrein. Das Ganze auch noch rechts herum, so muss es immer sein!"

Das ist die Strategie des Scheiterns. Tango gelingt nur dann, wenn die Tänzer reziprok achtsam sind, wenn sie sich subtil aufeinander abstimmen und permanent voneinander lernen. "Top down" kann bestenfalls ein Barocktanz entstehen. Menschen drehen sich dabei langweilig im Kreis - ähnlich den Newton'schen Planeten auf ihren Bahnen um die Sonne: geradegestutzt wie Buchsbäume in Schönbrunn.

Eine Frage des Kontexts

Je nach Kontext sind Menschen entweder altruistisch oder egoistisch. Macht wohnt die Tendenz inne, dass sich deren Träger mehr und mehr allmächtig wähnt, und die, der selbstreferenziellen Schließung anheimzufallen (bedingt durch einen Neurococktail, in dem Dopamin eine zentrale Rolle spielt). Wie ist diese "L'État, c'est moi"-Attitüde zu verhindern? Das Servant-Leadership-Konzept von Robert Greenleaf stellt das Dienen in den Mittelpunkt und beruft sich dabei auf Jesus, der seinen Jüngern predigte: "Wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein."

Kreativer Altruismus und Demut sind dabei in einer pragmatischen Art und Weise mit Wirtschaftlichkeit zu verknüpfen. Was braucht es noch? Neben traditionellen Methoden der Führungsentwicklung (Feedback, Coaching, Mentoring, Schulung etc.) ginge es zu guter Letzt um lebenslängliches Offensein gegenüber anderen Lebenswelten, und zwar am besten beim zyklischen Training als Diener im Asylheim, Hospiz oder Obdachlosenhaus.

Wem das zu ambitiös ist, der verlasse zumindest hin und wieder den Olymp und übe sich als Anfänger etwa beim Cellolernen. Da werden eigene Grenzen, eigene Verwundbarkeiten stets aufs Neue erfahren. Das macht fit für den Tango des Lebens. (Johannes Steyrer, derStandard.at, 2.5.2013)