Wohnhaus in Mulhouse: Wohnen mit den Jahreszeiten.

Foto: Lacaton & Vassal

Im November vergangenen Jahres preschte Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou vor, indem sie für Wien eine generelle Mietobergrenze von sieben Euro pro Quadratmeter einforderte. Und zwar nicht nur bei geförderten Wohnungen, sondern auch am freien Markt. Ihr Begehren stieß auf harte Kritik, zumal sich eine Bundessache, die das Mietrecht nun mal ist, nicht auf Gemeindeebene beschließen lässt. Es hagelte Attacken von Mietrechtsexperten und Immobilienökonomen.

Heute, rund ein halbes Jahr später, entwickelt sich die Not mit dem Wohnen zur Causa prima im bevorstehenden Nationalratswahlkampf. Im Zentrum der Diskussion stehen Kritikpunkte wie Wohnkosten, Wohnraumknappheit, Ausschlusskriterien für den geförderten Wohnbau, Wiedereinführung der Zweckbindung bei der Wohnbauförderung sowie die längst überfällige Novellierung des österreichischen Mietrechtsgesetzes. Und plötzlich ist auch die kürzlich noch belächelte Mietobergrenze in aller Politiker Munde.

"In den Architekturzeitschriften sieht das Wohnen wunderschön aus", sagt der Wiener ­Soziologe Reinhold Knoll. "Die Möbel sind attraktiv, die verbauten Materialien wirken sehr hochwertig, und das Beste ist überhaupt die Aussicht, denn der Großteil der Wohnmagazinwohnungen befindet sich im Dachgeschoß mit angrenzender Dachterrasse."

Gemeinnützige bauen "smart"

Die Wahrheit hingegen, meint Knoll, sehe ganz anders aus: "Für 90 Prozent der Bevölkerung ist es undenkbar und schlichtweg ausgeschlossen, dass sie sich diese Form des Wohnens und Residierens jemals werden leisten können. Und bei den restlichen zehn Prozent wird sicher auch der eine oder andere dabei sein, der ob der gestiegenen Wohnkosten zumindest stark ins Grübeln gerät."

Die gemeinnützigen Wohnbauträger haben schon vor einigen Jahren begonnen, auf die steigenden Wohnkosten zu reagieren, indem sie einen Teil ihres jährlichen Bauvolumens als sogenannte "Smart-Wohnungen" ausführen. Das heißt: Die Wohnungen sind kompakt geschnitten, eine Dreizimmerwohnung hat in der Regel nicht mehr als 70 Quadratmeter, und die Mietpreise sind entsprechend niedrig. Die soziale Entfaltung – so sehen es zumindest die Wohnbauträger – findet in diesem Fall nicht in den vier Wohnungswänden statt, sondern im Stiegenhaus, auf der Gemeinschaftsterrasse oder in einem der vielen Kinderspielräume.

"Alles zugefahren und zugeparkt"

"Alles viel zu eng und viel zu introvertiert, das ist keine Grundlage für soziales Miteinander", meint der Soziologe. "Vor hundert Jahren konnte man die schlechten und engen Wohnverhältnisse noch insofern kompensieren, als man der Bevölkerung Gassen- und Straßenräume angeboten hat, die sie zumindest in der warmen Jahreszeit für sich beanspruchen konnte. Aber dieses Denkmodell ist längst veraltet, denn wie es scheint, ist den Stadtplanern und Politikern das Auto wichtiger als der Mensch. Alles ist zugefahren und zugeparkt. Für den Freizeit- und Erholungsbedarf der städtischen Bevölkerung gibt es keinen Platz mehr."

Knolls Forderung ist unmissverständlich: "Mehr Platz in den Wohnungen! Und ein Ende der Spekulationswirtschaft und der Kapitalisierung des Wohnungsmarktes, denn Wohnen ist kein Immobiliengeschäft, sondern ein Grundbedürfnis." Die heutige Situation am Wohnungsmarkt sei nicht nur beunruhigend, sondern auch ein Indiz dafür, dass das Gesellschaftsmodell Wohlfahrtsstaat bald vom Kapitalstaat abgelöst werden könnte.

Phänomen Baugruppen

Hinzu kommt die Tatsache, dass immer mehr Bürger und Wohnungssuchende ihr Recht auf Mitbestimmung und Mitverantwortung einfordern. Partizipations- und Gemeinschaftsprojekte wie etwa "Wohnen mit Kindern" von Ottokar Uhl (1984) und die orangefarbenen Wohnheime Sargfabrik (1996) und Miss Sargfabrik (2001) in Wien-Penzing waren erst der Anfang. Da wie dort wurden Bauvorschriften, Normen und verbindliche Stellplatznachweise für Autos geschickt umschifft, um mehr Geld und vor allem mehr Raum für Wohnen zu schaffen. Der Wunsch nach Partizipation geht heute so weit, dass sich immer mehr Menschen zusammentun und eigenständig sogenannte Baugruppen bilden. Das Phänomen ist vor allem in deutschen Großstädten zu beobachten.

Mittlerweile ist der Trend in einer abgeschwächten Form auch auf Österreich übergeschwappt. Der Vorteil daran: Man tritt im Kollektiv als selbstverwaltete Bauherrschaft an, kümmert sich eigenständig um Grundstückssuche, Projektentwicklung und Planung und kann auf diese Weise an den trägen und immer teurer werdenden Mühlen des Wohnungsmarktes vorbeimanövrieren. Doch dazu braucht es einen langen Atem.

Clever und smart

Wie die Zukunft des österreichischen Wohnens angesichts steigender Wohnkosten aussehen könnte, zeigt ein aktuelles Beispiel aus Frankreich. Das Pariser Architekturbüro Lacaton & Vassal hat sich auf die Schaffung billigen, aber hochwertigen Wohnraums spezialisiert. Förderrichtlinien und Mietrecht werden in Absprache mit dem Bauträger von Fall zu Fall ausgehebelt, an ihre Stelle treten clever errichtete Familienwohnungen, die fast doppelt so groß sind wie vergleichbare Objekte am Markt – und das zu gleichen Preisen.

"Normalerweise rechnet man im sozialen Wohnbau in Frankreich mit Baukosten von etwa 1500 Euro pro Quadratmeter", erklärt Anne Lacaton. "Die Wohnungen bestehen dann aus einem 20-Quadratmeter-Wohnzimmer und ein paar kleinen Schlafzimmerschachteln mit zehn oder elf Quadratmetern. Ist das etwa Lebensqualität?"

Anstatt sich an den maximal erlaubten Baukosten pro Quadratmeter zu orientieren, dreht Lacaton den Spieß um und sagt: "Das heißt also, eine Wohnung für eine drei- oder vierköpfige Familie darf in der Errichtung maximal 120.000 Euro netto kosten? Gut, das schaffen wir, aber wir bauen um das Budget viel größere Einheiten. Unsere Wohnungen haben zwischen 120 und 150 Quadratmeter und kosten keinen Cent mehr."

Vorgefertigte Elemente

Der Trick dabei: Lacaton & Vassal orientieren sich an Lager- und Industriebauten und planen sehr einfache, rigide Strukturen, die dann mit industriell vorgefertigten Elementen oder mit ganz klassischen Baustoffen geschlossen werden: Beton, Holz, Glas und Gipskarton. Die Decken bleiben meist roh, ums Ausmalen kümmert sich der Mieter.

Doch der größte Clou sind die sogenannten Bonuskubaturen. "Vereinfacht ausgedrückt sind das zweitrangige Wohnräume, die meist nur im Frühjahr, im Sommer und im Herbst oder aber untertags an sehr, sehr sonnigen Wintertagen benutzt werden können", so Lacaton. "Meist orientieren sich diese Kons­truktionen an Gewächshäusern und bestehen aus unverzinktem Stahl und diversen Kunststoffen wie etwa Polycarbonat."

Jahreszeitenräume

Mit der Jahreszeit ändert sich auch das Wohnen. Im Winter leben die Menschen in den von Lacaton & Vassal geplanten Wohnungen kompakter und zurückgezogener, in den warmen Monaten dehnt sich der Lebensbereich aus, und plötzlich wird der Wintergarten zum Wohnzimmer, die Terrasse zum Schlafraum mit Hängematte, der gedeckte Garten zum exotischen Essplatz zwischen Zimmerpflanzen und Palmen. "Das System wird von den Bewohnern mit großer Freude angenommen. Nach und nach beginnen die Leute, die zusätzlichen Jahreszeitenräume zu möblieren und auf ihre Weise zu nutzen. Manchmal ist die von uns geschaffene Bonus­kubatur eine Werkstatt, manchmal eine Bibliothek, manchmal ein Tischtennis-Raum und manchmal einfach nur ein Abstellraum. In den meisten Fällen aber ist es so, dass die Leute im Frühling damit anfangen, den Tisch in den Wintergarten zu stellen oder die Couch und das Bett ins Freie zu rollen."

Die Projekte von Lacaton & Vassal machen europaweit Furore. Bis so etwas in Österreich möglich ist, müssten erst noch Bauordnung und Normen entrümpelt werden. Der zweckgebundene Einsatz der Wohnbaufördermittel, die Novellierung des Mietrechtsgesetzes und ein Spekulationsstopp für dringend benötigte Wohngrundstücke wäre zumindest schon ein erster Schritt in Richtung Vision. (Wojciech Czaja, STANDARD, "Open Haus", Frühjahr 2013)