Der Tagesablauf in 24-Stunden-Kindergärten unterscheidet sich kaum von herkömmlichen Einrichtungen. Grundsätzlich verbringen finnische Kinder viel Zeit an der frischen Luft - auch bei Minusgraden.

Foto: Pasi Brandt

Die Kindertagesstätte Takatasku im Nordosten von Helsinki.

Foto: Anttila Malla

Der kleine Mika ist geschafft. Es ist kurz nach 5, und er hat die letzten zwei Stunden bei knappen Plusgraden im Garten verbracht. Jetzt schält ihm die Betreuerin die Winterstiefel von den Füßen und zieht ihn aus seinem dicken Winteroverall.

Der Vierjährige wird heute die Nacht im Kindergarten verbringen. Seine Mutter ist Geschäftsführerin eines kleinen Cafés im Zentrum von Helsinki. Sie kommt heute erst gegen 23 Uhr nach Hause, zu spät, um ihn noch aus dem Kindergarten zu holen.

An diesem Donnerstag übernachten aus seiner Gruppe noch vier weitere Kinder im Kindergarten. Nach dem gemeinsamen Abendessen werden sie mit der Betreuerin aus ihrer Gruppe spielen und dann noch ein wenig fernsehen. Wie zu Hause heißt es für die Kleinen auch hier spätestens um 8 Uhr Licht aus.

Eine Stunde Anfahrtsweg

Der Kindergarten von Mika, genannt "Takatasku", liegt im Nordosten von Helsinki. Das ebenerdige, weiße Haus ist eigentlich nur wegen des großflächigen Gartens mit allerlei Spielplatzutensilien als Kindergarten erkennbar. Manche Eltern brauchen eine Stunde, um ihr Kind hier abzuliefern. Praktisch sei das nicht, erklärt die Leiterin Malla Anttila, doch ihre Jobs lassen ihnen keine andere Wahl.

In Finnland hat jedes Kind einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, und dieses Recht beinhaltet auch eine 24-Stunden-Betreuung. Um so einen Platz zu bekommen, müssen Eltern dem Kindergarten ihre Dienst- oder Studienpläne vorweisen - und das Woche für Woche. Dafür kostet der Platz nicht mehr als in einem herkömmlichen Kindergarten. Die Mehrheit der Eltern, die ihre Kinder hierher bringen, sind alleinerziehend oder leben vom Partner/der Partnerin getrennt, erläutert Anttila.

Großer Bedarf im Raum Helsinki

Allein im Raum Helsinki gibt es acht solcher Einrichtungen, rund 500 Kinder haben hier einen 24-Stunden-Betreuungsplatz. Ein Vergleich dazu: In Österreich gibt es keinen einzigen öffentlichen Kindergarten, der Kinder über Nacht oder auch am Wochenende nimmt (siehe Hinweis unten). Hierzulande brauchen Eltern private Netzwerke, um über Nacht arbeiten gehen zu können. Oder sie lassen es eben bleiben.

Tagesablauf voller Pläne

Malla Anttila hat ihr gesamtes Berufsleben in Kindereinrichtungen verbracht. Die Arbeit in einer 24-Stunden-Einrichtung sei eine besondere Herausforderung, erzählt sie. Die Kindergartenlehrerinnen und Pflegerinnen haben es jeden Tag mit einer anderen Mischung aus Kindern zu tun, das hat natürlich Auswirkungen auf die pädagogische Vorbereitung.

Minutiöse Pläne sorgen für die nötige Übersicht, wann welches Kind gebracht und abgeholt wird und wie lange es über die Woche verteilt schon hier war. Vorgesehen ist, dass die Übernachtungskinder insgesamt weniger Stunden im Kindergarten verbringen als die Kinder in der Tagespflege.

Draußen wird es schön langsam dunkel. Kurz vor 8 wird die sechsjährige Emilia gebracht. Sie hat noch mit ihrem Vater gemeinsam zu Abend gegessen, doch die Nacht wird sie in Takatasku verbringen. Anders als bei den Krippenkindern läuft in ihrer Altersgruppe das Übernachten nicht mehr immer so friktionsfrei, weiß Anttila. "Da hören wir dann schon manchmal: Muss ich heute schon wieder hier übernachten?"

Finnische Vorschule

Währenddessen gesellt sich Emilia zur gemischten Kindergruppe, die im Gemeinschaftsraum ein Hörspiel anhört. Die Mutter von Emilia ist aus beruflichen Gründen drei Tage pro Woche nicht zu Hause, der Vater arbeitet in einem örtlichen Krankenhaus.

Als Sechsjährige besucht Emilia bereits die finnische Vorschule, ein spezielles Programm, das in allen öffentlichen Kindergärten angeboten wird. Sannalinnea Hietanoro, die als Kindergartenlehrerin in Takatasku arbeitet, gestaltet diese vier Stunden pro Tag in Abstimmung mit den Eltern und den Interessen der Kinder. Vergangene Woche hat Emilia zum Beispiel ihr liebstes Spielzeug in die Schule mitgebracht und es ihren KollegInnen präsentiert. Im Vordergrund steht in der Vorschule nicht so sehr die Wissensvermittlung, betont die Pädagogin, die selbst zwei Kinder hat. Was zähle, sei das Erlernen sozialer Fähigkeiten, die in der Schule wichtig sein werden. "Die Kinder lernen, als Individuum in der Gruppe zu bestehen, ohne dabei die Regeln außer Acht zu lassen", so Hietanoro.

Schädliche Kinderbetreuung?

Dass die Kinder Schaden nehmen könnten, weil sie nicht zu Hause schlafen können, ist hier kein Thema. Freilich hat es Anttila in ihrer Einrichtung auch mit verhaltensauffälligen Kindern zu tun, doch das lasse sich nicht auf die Betreuungsform zurückführen, meint die Leiterin: "Wenn es mit Kindern Probleme gibt, dann hat das meist familiäre oder auch soziale Gründe."

Das eigene Kind über Nacht in Betreuung zu geben ist in Finnland kein Tabu. Die Gesellschaft macht berufstätigen Müttern in dieser Frage weniger Vorhaltungen als in anderen europäischen Ländern, vermutet die Leiterin. Dennoch neigen auch hier die betroffenen Eltern zu Vermeidungshaltungen. Manche versuchen, das Kind so selten wie möglich über Nacht zu bringen, oder legen ihre Schichten abwechselnd, sodass zumindest ein Elternteil in der Nacht zuhause ist. Anttila ermuntert dann die Eltern, ihre Sichtweise zu überdenken: "Erstens, weil sie sonst ihren Anspruch auf einen 24-Stunden-Platz verlieren. Und zweitens, weil es nicht gut ist für eine Familie, wenn sie nie zusammen sein kann."

Die Einheiten "Familie" und "Institution" verwachsen bei der 24-Stunden-Betreuung noch stärker, als dies bereits bei herkömmlicher Tagesbetreuung der Fall ist. Deshalb ist der Dialog mit den Eltern auch besonders wichtig. Jedenfalls könne ihre Institution die Familie und den Halt der Eltern nicht ersetzen, betont Hietanoro abschließend: "Eltern müssen Eltern bleiben, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern haben." (Ina Freudenschuß, dieStandard.at, 5.5.2013)