Sämtliche Spielarten des sündigen Treibens der Menschheit zeigt die Mitteltafel des "Weltgerichtstriptychons" - im Bild ein Ausschnitt.

Foto: Gemäldegalerie der Akad. d. bild. Künste Wien

Skizzen unter der Ölschicht, durch Infrarot sichtbar gemacht, geben Hinweise auf die Entstehung des Gemäldes. Noch sind viele Konturen unscharf.

Foto: Gemäldegalerie der Akad. d. bild. Künste Wien

Wie Gustostücke auf einer festlichen Tafel liegen großformatige Ausdrucke auf dem langen Tisch im Büro von Renate Trnek. Die hochauflösenden Drucke offenbaren gestochen scharf die Details eines Gemäldes, das auf den ersten Blick wie ein Wimmelbild aus Fabelwesen und Folterszenen wirkt. Daneben zeigen schwarz-weiße Blätter die filigranen Zeichnungen, die sich unter der sichtbaren Oberfläche befinden. Stark vergrößerte Bildausschnitte ziehen noch tiefer in die bizarre Welt des Hieronymus Bosch hinein.

Der Tisch ist flankiert von einer Fensterfront und einer Bücherwand, aus der Trnek bei Bedarf zielgerichtet den Band fischt, den sie gerade braucht. Als ehemalige Leiterin der Gemäldegalerie an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo das Weltgerichtstriptychon ausgestellt ist, hat Trnek alles ausgegraben, was es über das Werk und seinen Schöpfer Hieronymus Bosch zu wissen gibt. Doch das ist nicht genug: "Obwohl es ein absolutes Spitzenstück ist, wurde es bisher nie konsequent und systematisch untersucht."

Also hat Trnek nach ihrem Rückzug aus der Gemäldegalerie begonnen, das verstörende Triptychon endlich eingehend zu erforschen. Und zwar bis in die letzte Faser - mit kunsthistorischen wie mit naturwissenschaftlichen Methoden. Unterstützt wird sie dabei vom Wissenschaftsfonds FWF und vom Institut für Naturwissenschaften und Technologien in der Kunst an der Akademie der bildenden Künste. Bis zum großen Jubiläum zu Boschs 500. Todestag, das 2016 in dessen Heimatstadt s'Hertogenbosch gefeiert wird, soll die Forschung abgeschlossen und publiziert sein.

Sünder-Ham-and-Eggs

"Es gibt etwa 25 Tafeln, für die die Autorenschaft von Bosch in Diskussion ist", erläutert Trnek. Davon ist das Weltgerichtstriptychon zweifellos eines der faszinierendsten. "Das schauerlich Schöne, die Perversion alltäglicher Tätigkeiten ins Teuflische und sämtliche exotischen Auswüchse sind typisch für Bosch", schildert Trnek und deutet auf Szenen auf dem Mittelteil des Triptychons. "Da, die Hexe, die Sünder-Ham-and-Eggs zubereitet, oder der Jäger, der den Sünder wie einen erlegten Hirsch abtransportiert."

So viel die Kunstgeschichte bereits in die unbehaglichen Gestalten und Vorgänge hineininterpretiert hat, so wenig weiß man über Hieronymus Bosch selbst. "Er ist ein Gespenst", sagt Trnek. "Zu den 25 Tafeln gibt es keinerlei schriftliche Belege." Nur Abrechnungen der religiösen Liebfrauenbruderschaft, deren engstem Zirkel Bosch als "geschworener Bruder" angehörte, geben Anhaltspunkte über das gesellschaftliche Netzwerk, in dem sich Bosch bewegte.

Einer der Forschungsschwerpunkte von Trnek ist es denn auch, herauszufinden, wo der niederländische Maler die Inspirationen für seine völlig aus der Norm fallende Darstellung des Jüngsten Gerichts gefunden haben könnte: "Illustrationen von religiösen Texten, speziell in Stundenbüchern für Laien, könnten eine Quelle gewesen sein", verrät Trnek erste Spuren. Fest steht: Bosch zeichnet ein überaus pessimistisches Bild, in dem die Menschheit nicht mehr zu retten ist und aufgrund der Todsünden, die sie begeht, zur ewigen Hölle verdammt ist - zumindest "zu 99,97 Prozent", wie es Trnek ausdrückt. Denn es sind nur ganz wenige versprengte, kaum erkennbare Figuren, die in Richtung ewigen Lichts auferstehen.

Blick unter die Ölschicht

Hinweise auf die Umstände der Entstehung des Werkes sucht Trnek auch in den sogenannten Unterzeichnungen - Skizzen, die als Wegweiser für den Malprozess dienten, bevor sie mit Öl ausgeführt wurden. Mithilfe der Infrarotreflektografie, die mit bestimmten Wellenlängen einige Farbpigmente transparent erscheinen lässt, wurde das Weltgerichtstriptychon erstmals vollständig durchleuchtet. Es zeigte sich: In den Skizzen waren Auferstehende gar nicht vorgesehen.

Ein wüster Kunsthistorikerstreit herrscht auch um einen vorgezeichneten Stifter, der nie die Bildoberfläche erblickte. Er muss den unbekannten Auftrag- und Geldgeber des Werkes darstellen, der sich aus bisher unerfindlichen Gründen während der Fertigstellung des Triptychons zurückzog. "Ich vermute, dass durch den Wegfall des Stifters eine Planänderung stattfand und die Auferstehenden erst in einem weiteren Arbeitsschritt hinzugefügt werden mussten", sagt Trnek. "Sonst wäre es Häresie gewesen."

Zutage kamen noch viele andere obskure Details, die übermalt wurden: etwa ein riesiger Teufel mit Hahnenfedern, der einen zwischen zwei Pfählen aufgehängten Nackten mit einem Fuchsschwanz zersägt. Die Unterzeichnungen sind aber auch eine wichtige Referenz, um einwandfrei der Hand des Schöpfers auf die Schliche zu kommen. Diese "grafologischen" Analysen werden im Fachjargon "Händescheiden" genannt: Dabei versucht die Kunstgeschichte, mithilfe formaler Kriterien die Besonderheiten eines Künstlerstils im Gegensatz zu seinen Assistenten oder späteren Nachahmern zu erfassen und damit auch Werkstattzusammenhänge zu rekonstruieren.

Anhand der Erkenntnisse des renommierten Wiener Bosch-Forschers Fritz Koreny, der dessen Handzeichnungen eingehend beschrieb und einordnete, stellt Renate Trnek Vergleiche an. "Durch die Infrarotreflektografie konnten wir in den Unterzeichnungen bereits eindeutige Hinweise für die Meisterhand finden. Der Nachweis ist in diesem kreativen Prozess, an dem mehrere Maler mitwirkten, ausgesprochen diffizil." Es gilt also genau abzugrenzen: Schließlich wurde dem Wiener Triptychon immer wieder unterstellt, kein echter Bosch zu sein.

Unerhört modern

Hochauflösende, bis zu 70-fache Vergrößerungen erlauben Einblicke in die verblüffende Maltechnik Boschs: Er malt nicht deckend, sondern nutzt die helle Grundierung, die immer wieder hervorscheint. "Diese ökonomische Malweise ist unerhört modern. Die alten Meister wollten den Malvorgang möglichst verschwinden lassen. Darum scherte sich Bosch nicht." Unter dem Mikroskop und mit Pigmentanalysen lässt sich zudem der Aufbau der Farbschichten rekonstruieren, was eine Zuordnung von späteren Übermalungen möglich macht.

Trotz technischer Hilfsmittel braucht das vor allem ein geschultes Auge und viel Geduld. Die intensive Arbeit hinterlässt auch bei der Expertin Spuren: "Manchmal träume ich von dem Bild. Nach dem Projekt werde ich mich lange nicht damit auseinandersetzen." (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 15.05.2013)