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Auch im Kongo sind Fisteln unter besonders jungen Müttern ein Problem. In Goma werden Patientinnen in speziellen Krankenhäusern behandelt.

Foto: REUTERS/Alissa Everett

"Besser wäre es zu sterben als so ein Leben. Mein Kind ist tot, ich habe keine Mutter und keinen Ehemann mehr", sagt die 16-jährige Agnes vor laufender Kamera. Die Äthiopierin leidet seit der Totgeburt ihres Babys an einer Genitalfistel. Dabei handelt es sich um eine schwere Verletzung während des Geburtsvorgangs, die zu chronischer Inkontinenz führt, in manchen Fällen auch zur Lähmung der Beine und Nierenschäden. Mehr als zwei Millionen Frauen weltweit sind laut Schätzungen der WHO davon betroffen, Tendenz steigend.

Ein Problem der Armut

"100.000 Fälle kommen jährlich dazu", berichtete Umyma El Jelede in ihrem Vortrag im Rahmen der "Mutternacht"-Tagung in Wien. Die aus dem Sudan stammende Ärztin, die als Beraterin für Fistel-Erkrankungen im Frauengesundheitszentrum FEM-Süd arbeitet, betonte, dass Geburtsfisteln neben den gesundheitlichen Schäden vor allem extremes soziales Leid nach sich ziehen. "Die Frauen werden aus der Gemeinschaft verstoßen, weil sie Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle haben und nach Harn und Stuhl riechen. Auf diese Weise stigmatisiert, verlieren sie mit ihren sozialen Rollen ihren gesamten gesellschaftlichen Halt".

Diese Dramatik sei ein Problem von Frauen in den ärmsten Ländern der Welt. Denn während sie dort zum tragischen Frauenalltag gehöre, kommen Geburtsfisteln in Europa und Nordamerika aufgrund der guten medizinischen Versorgung nur mehr äußerst selten vor und sind so gut wie unbekannt.

Wie Geburtsfisteln entstehen

Geburts- oder Genitalfisteln sind artifizielle röhrenartige Verbindungen zwischen der Vagina und anderen inneren Organen, die bei einem lang andauernden Geburtsprozess auftreten können. "Kommt es bei der Geburt zu einem Stillstand, weil der Kopf des Babys zu groß oder das Becken der Mutter zu schmal ist, entsteht Druck an einem bestimmten Punkt in der Vagina", erklärt der Berliner Chirurg Volker Herzog, der im Rahmen von "Ärzte ohne Grenzen" Fistel-Operationen durchführt. "Wird die Blutversorgung durch den oft über Tage ausgeübten Druck unterbrochen, stirbt das Gewebe an diesem Punkt ab und es bildet sich eine fistelartige Verbindung, zumeist zur Harnblase". Neben der erwähnten häufigsten Form, der sogenannten Vesico-Vaginal-Fistel, kann sich auch eine Fistel zum Enddarm bilden. Dadurch können Urin und/oder Stuhl nicht mehr zurückgehalten werden und gehen unkontrolliert durch die Vagina ab.

Mangelhafte medizinische Versorgung

Dass eine Geburt ins Stocken gerät, kommt selbstverständlich auch in den westlichen Ländern vor und ist der klassische Fall für einen Kaiserschnitt. Doch während in den Industrienationen der Großteil der Frauen in Spitälern entbindet und auch bei Hausgeburten die medizinische Notfallversorgung gewährleistet ist, sieht es in den sogenannten Entwicklungsländern ganz anders aus. Hier gebären die meisten Frauen alleine, ohne ärztliche Hilfe, oft sogar ohne Hebamme. Ein Transport in die nächste Klinik ist nicht nur aufgrund der meist großen Distanzen und schlechten Straßen unmöglich, sondern vor allem wegen der schwierigen ökonomischen Situation der Frauen. "Das wenige Geld geht für das Nötigste drauf, fürs Essen", so El Jelede. Die Frauen könnten sich ärztliche Unterstützung einfach nicht leisten. So opfern sie ihre Gesundheit und vielfach ihr Leben.

Die finanzielle Benachteiligung und das schlechte Gesundheitssystem sind aber nur am Rande die Gründe für das große Leid der Frauen mit Geburtsfisteln. Die primäre Ursache ortet El Jelede in der weit verbreiteten Praxis extrem früher Mutterschaft, die bekanntlich Komplikationen während der Geburt begünstigt. "Der Großteil der Mädchen ist erst zwischen 15 und 17 Jahre alt, ihre Körper sind für eine Schwangerschaft noch nicht ausreichend entwickelt, die Becken zu schmal, und die meisten Mädchen unterernährt". Doch je niedriger der soziale Status der Familie, umso früher würden die Töchter verheiratet, um sie als "unnötige Esser" los zu werden. Wenn dann die Aufklärung über Verhütung fehlt  oder vom Ehemann verweigert wird, sei die Misere vorprogrammiert.

Nicht nur mangelnde Bildung und die noch stark ausgeprägte patriarchale Tradition in diesen Ländern seien verantwortlich. "Geburtsfisteln sind auch häufig Folge von schweren Verletzungen durch Genitalverstümmelungen", erklärte die Ärztin. Besonders die Technik der Exzision und Fibulation würden für die spätere Bildung von Fisteln prädestinieren. Ein Faktum, das sich speziell in Äthiopien, dem Land mit den meisten Fistelerkrankungen, zeigt, wo 90 Prozent der Frauen Opfer von FGM sind.

Soziale Ausgrenzung bis zum Tod

Die Folgen für Mädchen und junge Frauen mit einer Fistelerkrankung sind dramatisch. Denn neben den extremen physischen Schmerzen und den psychischen Qualen der Scham, kommen sie auch sozial enorm unter Druck. Von ihren Familien und Dorfgemeinden ausgegrenzt und zumeist verstoßen, gelten sie fortan als Paria, als Stigmatisierte. "Ich kann ihren Körpergeruch nicht mehr ertragen", lautet die Begründung eines Äthiopiers, der seine Frau wegen ihrer Fistelerkrankung verlassen hat.

Was den meisten Betroffenen bleibt, ist nur allzu oft das einsame Dasein als Bettlerin. Falls es überhaupt so weit kommt. Denn in einigen ländlichen Regionen sei es noch üblich, Frauen mit im Geburtskanal stecken gebliebenen Babys an den Dorfrand zu bringen und sie dort, abseits jeder Hilfeleistung sterben zu lassen, "den Hyänen ausgeliefert", wie es Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek bei der Eröffnung der Tagung besonders drastisch beschrieb.

Patriarchale Traditionen aufbrechen

Tragödien, die vermeidbar wären. Allem voran durch entsprechende Prävention und Bildungsarbeit. "Die Mädchen müssten rechtzeitig über Verhütungsmittel aufgeklärt werden, um Schwangerschaften im Teenageralter zu vermeiden", meinte El Jelede. Dazu sei es nötig, ihnen diese Mittel gratis zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie den Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft selbst bestimmen. Die Voraussetzung dafür liege auf der Hand: eine grundlegende Ausbildung, die zugleich den Selbstwert der Mädchen stärkt. Doch ohne die Einbeziehung von Eltern und Ehemännern ginge es sicher nicht. Besonders in den Provinzen seien uralte patriarchale Traditionen stark verankert, "die gilt es, aufzubrechen und viel, sehr viel Bewusstseinsbildung zu leisten", so El Jelede.

Unterstützende Programme

Zu spät ist es aber nie. Auch dann nicht, wenn eine Frau bereits an Genitalfisteln leidet. Durch eine relative einfache Operation können Fisteln saniert und die Inkontinenz als Hauptproblem in den meisten Fällen beseitigt werden. Eine Mehrheit der operierten Frauen ist nach dem Eingriff beschwerdefrei. Im Fistula-Hospital in Addis Abeba beträgt die Erfolgsquote 90 Prozent. Seit 2003 werden die Operationen in der Höhe von umgerechnet etwa 200 Euro kostendeckend von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in mehreren afrikanischen Ländern angeboten. „Die Fistel-Operation wurde als vernachlässigte Krankheit ins Programm aufgenommen, weil diese Frauen keine Lobby, kein Geld und keine Unterstützung haben", erklärt Volker Herzog. Mittlerweile beteiligen sich auch einige NGO's an dem Programm, vor allem in Form von Spendenaktionen, sowie der UNO-Bevölkerungsfonds (UNFPA).

Hoffnung am Horizont

Obwohl diese Interventionen positiv zu bewerten sind, gibt es noch eine Reihe von Problemen. Zuerst einmal muss die betroffene Frau von dieser Möglichkeit erfahren. Sie muss davon in Kenntnis gesetzt werden,  wo es eine Klinik gibt, in der sie sich professionell und finanziell leistbar behandeln lassen und wie sie – besonders von entlegenen ländlichen Gebieten aus - diese Klinik erreichen kann. Und auch nach einer erfolgreichen Operation steht in den meisten Fällen noch eine Menge Arbeit an. Denn nach jahrelanger sozialer Ausgrenzung gestaltet sich die Wiedereingliederung in Familie und Gesellschaft oft als sehr schwierig.  Um die Reintegration zu erleichtern, laufen erste Hilfsprogramme an, die ehemaligen Fistelpatientinnen Handwerke beibringen, um zumindest ihre ökonomische Unabhängigkeit zu sichern. "Wir können nur hoffen, dass die weltweite Kampagne gegen Geburtsfisteln bald fruchtet", meinte Umyma El Jelede abschließend. Immerhin ist sie Teil des fünften Milleniumsentwicklungszieles zur Verbesserung der Müttergesundheit. (Dagmar Buchta, 19.5.2013)