Es sei "absolut falsch", Taten wie die Ermordung eines britischen Soldaten auf offener Straße mit der Religion in Verbindung zu bringen, warnte der Londoner Bürgermeister Boris Johnson. Wenig später sagte Regierungschef David Cameron in Anspielung auf die mutmaßlichen Motive der Täter, sie hätten Verrat am Islam und an den muslimischen Gemeinden verübt, die so viel für das Land leisteten.

Es ist verständlich, dass der politische Repräsentant einer multikulturellen Metropole wie London jeden Eindruck vermeiden will, als sei in seiner Stadt eine Art Religionskrieg im Gange. Aber es bedeutet Realitätsverweigerung, so zu tun, als gäbe es nicht einen Krieg, der praktisch weltweit, zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber meist gewaltsam, im Namen des Islam geführt wird: gegen die, vereinfacht ausgedrückt, westliche, also christlich und jüdisch geprägte Zivilisation.

Und Cameron hat recht, wenn er derartige kriegerische Akte als Verrat am Islam bezeichnet. Aber dass dieser Verrat möglich ist, hat mindestens so viel mit islamischem Selbstverständnis zu tun wie mit den sozialen, politischen und ethnischen Problemen in den Ländern, in denen militante Islamisten am Werk sind.

Kurz: Das Problem des gewaltsamen Islamismus ist auch ein Problem des Islam selbst. Wenn dumme westliche Provokateure wieder einmal den Propheten Mohammed karikieren, gehen weltweit Muslime auf die Straße, vorgeblich spontan, meist aber eben von Islamisten angestachelt. Wo aber bleibt ein vergleichbarer Aufschrei islamischer Gemeinden, wenn Bluttaten wie die jüngste in London im Namen ihrer Religion verübt werden?

Nicht wegzudiskutieren ist, dass sich Gewalt - nicht nur ­- gegen Andersgläubige mit zahlreichen Stellen im Koran rechtfertigen lässt. Worum es geht, ist eine zeitgemäße Interpretation des Islam. Die friedliebenden Muslime - und das ist wohl die überwiegende Mehrheit – haben es zugelassen, dass die militanten Islamisten die Deutungshoheit über ihre Religion erringen, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Das hat viel mit sozialer Ungerechtigkeit, Armut, mangelnder Bildung zu tun - siehe Arabischer Frühling und die Folgen. Und etwas der Aufklärung im Christentum Vergleichbares hat der um ein halbes Jahrtausend jüngere Islam nicht erlebt. Trotzdem muss er mit der modernen Welt zurechtkommen. Das ist sein zentrales Problem.

Die Hauptverantwortung liegt bei den friedliebenden Muslimen und ihren Repräsentanten. Es gibt genügend führende islamische Geistliche und Denker, die den Islam schlüssig und überzeugend als eine Religion interpretieren, die heute unvereinbar mit Gewaltausübung und zugleich kompatibel mit einer pluralistischen Gesellschaftsordnung ist; die vor allem den jungen Muslimen glaubhaft darlegen können, dass Gewalt im Namen des Islam die größte Beleidigung ihrer Religion ist. Sie müssen eine entsprechende Bühne erhalten.

Zugleich braucht es in den westlichen Gesellschaften ein aktives Verständnis für die muslimischen Mitbürger. Sie müssen nicht nur als solche wahr- und ernstgenommen, sondern auch konstruktiv gefordert werden. Nur wenn sie persönlich erfahren, dass das Bekenntnis zu den westlichen Werten mit den gleichen Bildungs-, Entwicklungs- und Aufstiegschancen verbunden ist, werden sie immun gegen die islamistische Verführung. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 24.5.2013)