Ein preiswürdiger Bruce Dern (li.) fährt mit seinem Filmsohn Will Forte in Alexander Paynes gleichnamigem Wettbewerbsbeitrag durch "Nebraska".

Foto: Festival Cannes

Ein Finale im Zeichen der Uneinigkeit: Am Sonntag wird die Goldene Palme der 66. Filmfestspiele von Cannes verliehen, aber kaum ein Film findet ungeteilte Zustimmung - anders als 2012, wo Michael Hanekes Amour als recht sicheres Ticket galt. Die Coen-Brüder fanden mit Inside Llewyn Davis den größten Anklang bei der internationalen Kritik, bei den Franzosen wird Asghar Farhadis Familiendrama Le passé hoch gehandelt. Auch Jia Zhangkes ambitionierte Verortung des gegenwärtigen China, A Touch of Sin, könnte bei der von Steven Spielberg angeführten Jury Fürsprecher finden.

Gemischte Reaktionen rief an der Croisette in den letzten Tagen noch Abdellatif Kechiches dreistündiges Liebesdrama La vie d'Adèle (Blue ist the Warmest Color) hervor, die "éducation sentimentale" der 15-jährigen Adèle, die ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen entdeckt und mit der burschikosen Emma (Léa Seydoux) eine leidenschaftliche Beziehung beginnt. Kechiche gelingt es jedoch nicht in jeder Hinsicht, die Dauer des Films zu rechtfertigen - nicht nur der ausgiebig (und explizit) in Szene gesetzte, lesbische Sex wirkt überstrapaziert. Mit Adèle Exarchopoulos verfügt der Film jedoch über eine ungemein ausdrucksintensive Darstellerin, die noch die flüchtigsten Gefühlsregungen sichtbar werden lässt. Die 18-jährige Französin empfiehlt sich hier nachdrücklich für den Schauspielerinnenpreis.

Mürrischer US-Senior

US-Regisseur Alexander Payne (Sideways, The Descendants), im vergangenen Jahr Jurymitglied, erweist sich in Nebraska dagegen einmal mehr als einer der nuanciertesten Erzähler amerikanischer Alltagskultur. Das in Schwarzweiß und Cinemascope gedrehte Familiendrama mit komischen Untertönen begleitet einen mürrischen, trinkfreudigen und geistig schon etwas eingebremsten Senior (Bruce Dern, ein weiterer Preiskandidat) und seinen aufgeräumten Sohn (Will Forte) auf einer Reise nach Nebraska, jenen Bundesstaat, aus dem auch Payne stammt.

Der alte Woody ist dem Glauben verfallen, bei einer Werbebriefsendung eine Million Dollar gewonnen zu haben; David will ihm dies nicht gleich ausreden. Daraus entwickelt sich eine zarte, leicht wehmütige Konfrontation mit den Versäumnissen und Demütigungen einer schon ferneren Vergangenheit. Vater und Sohn kehren in die heimatliche Kleinstadt zurück, in der ein paar Rechnungen offen geblieben sind. Payne erweitert diese vielleicht eine Spur zu überschaubare Handlung zum Porträt abgewirtschafteter Kleinstädte, ohne sich ganz der Tristesse hinzugeben.

Von einem weitaus energischeren Familienmenschen im Konflikt mit feudaler Willkür erzählt der französische Filmemacher Arnaud des Pallières in seiner kargen, essenzialistischen Heinrich-von-Kleist-Adaption Michael Kohlhaas. Mads Mikkelsen verkörpert den stur auf sein Recht pochenden Pferdehändler mit viriler Eindringlichkeit. Doch die dramatischen, eines Schlachtenfilms würdigen Gewaltakte des bürgerlichen Rebellen deutet des Pallières nur an oder filmt sie aus weiter Distanz.

Michael Kohlhaas ist mehr wie ein fragmentarischer "Western" inszeniert, der bei Jacques Rivette und Robert Bresson Anleihen nimmt. Die Aufständischen finden in der unwirschen Natur einen Ort, der ihnen erst zu sozialer Besonderheit verhilft: So wird Kohlhaas etwa, anders als bei Kleist, immer nur im Freien konsultiert. Da ist es auch konsequent, dass der Film den Akzent mehr auf physische Verrichtungen als auf die Verhandlung moralischer Prinzipien legt: Kraft seines Körpers klagt dieser Mann sein Recht ein - ein kluger, etwas unnahbarer Film. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 25./26.5.2013)