Die Villa Méditerranée und im Hintergrund das Museum MuCEM, das diese Woche eröffnet wurde.

In der nächsten Ausgabe von dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 52, Juli - September, erscheint ein längerer urbanistischer Beitrag zur Kulturhauptstadt Marseille. 

Foto: Frédéric Y. Singer, dérive - Zeitschrift für Stadtforschung

Daniel Winkler (Hg.): "Marseille und die Provence. Eine literarische Einladung". Wagenbach Verlag 2013, 144 Seiten, 15,90 Euro

Foto: Wagenbach Verlag

Als der Österreicher Fred Wander 1940 in Marseille ankommt, hat er eine zweijährige Flucht quer durch die Schweiz und Frankreich hinter und die Internierung in diversen KZs vor sich. 1991 widmet er seinen Exilroman "Hôtel Baalbek" der Stadt, deren pulsierendes und von Flüchtlingen unterschiedlichster Herkunft gezeichnetes Hafenmilieu ihm eine bleibende Erinnerung ist.

So wie Wander ist es vielen ergangen, nicht nur Österreichern: Marseille ist eine Stadt des Transits und der Passage, die unzählige Autoren aufgenommen hat, von französisch-arabischen SchriftstellerInnen wie Tahar Ben Jelloun und Leïla Sebbar bis hin zu etablierten Autoren wie den Goncourt- beziehungsweise Nobelpreisträgern Michel Tournier und Jean-Marie Le Clézio.

Manchen von ihnen gilt die Stadt als Inbegriff des Südens, als nahezu afrikanisch, anderen als kalt und Verkörperung des Nordens. Aber alle begreifen Marseille als Ort eines existenziellen Kampfes, dem gleichzeitig eine Poetik des Alltags innewohnt. Denn Marseille versprüht neben vielen Klischees, die unter anderem von der hohen Arbeitslosigkeit und Migration herrühren, auch etwas vom großen amerikanischen Traum: als Ort, von wo aus der Chansonnier Yves Montand alias Ivo Livi ebenso wie die Fußballer Zinédine Zidane und Samir Nasri über Paris vom Immigranten zum Millionär geworden sind.

Ein lang anhaltender schlechter Ruf

Marseille, die phokäische Stadt, wie es wegen seiner Gründung durch Handelstreibende aus dem heutigen Foçabei Izmir genannt wird, ist 2013 neben dem slowakischen Košice die zweite Kulturhauptstadt Europas. Die Lage am Mittelmeer und seine Funktion als Transit- und Industriehafen eines Kolonialreichs sind Gründe, warum Marseille nicht nur lange einen schlechten Ruf hatte, sondern bis heute über einen anarchischen Charme verfügt.

Das Kulturhauptstadtprogramm, das mehr als 900 Projekte umfasst, erstreckt sich dementsprechend auf ein großes Einzugsgebiet, das weitgehend mit dem Departement Boches-du-Rhône übereinstimmt. Es reicht von Aix-en-Provence und Aubagne im Norden bzw. Osten von Marseille über den größten französischen Binnensee und Industriestandort Etang de Berre bis nach Arles in die westlich gelegene Camargue. In dieses touristisch-kulturell gut etablierte Ambiente, das positive Provence-Assoziationen bereithält, soll nun die älteste und sich stets ein wenig rebellisch gebende Stadt Frankreichs integriert werden.

Das Programm der Kulturhauptstadt nennt sich so Marseille-Provence 2013, wobei Marseille mit seinen 800.000 EinwohnerInnen der zentrale Veranstaltungsort ist und einen starken Akzent auf den Museumsbereich legt. Neben dem J1, einem ehemaligen Hafenhangar mit 6.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, sind vor allem zwei Bauten spektakulär: dervon dem Mailänder Architekten Stefano Boeri gestaltete plurimediale Veranstaltungs- und Ausstellungsort Villa Méditerranéeund das von dem preisgekrönten Franzosen Rudy Ricciotti verantwortete Museum für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums (MuCEM).

"Ein mediterraner Traum"

Das erst diese Woche eröffnete lichtdurchflutete Museum ist das große Prestigeprojekt der Marseiller Kulturpolitik, die die letzten Jahrzehnte keine derartigen Attraktionen aufzuweisen hatte, was sich auch in seiner Lage widerspiegelt. Es nutzt neben der Hafenmole J4 die noch vom Sonnenkönig Ludwig XIV. in der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Kontrolle der Stadt in Auftrag gegebene Festung Saint-Jean als Ausstellungsterrain und verbindet dieses über eine elegante Brücke mit dem nördlich des Alten Hafens auf einer Anhöhe gelegenen Viertel Panier, wo die Stadt der Sage nach einst gegründet wurde.

Aufmerksamkeit kommt dem Projekt auch zu, weil es sich um eine neu konzipierte Institution handelt, deren ethnologische Sammlung dem Nationalen Museum der Volkskünste und -traditionen entstammt, das im Rahmen einer Dezentralisierungsoffensive von Paris nach Marseille verlegt wurde. Den Auftakt des Museums bildet so neben einer permanenten Schau ganz programmatisch die Ausstellung "Das Schwarz und das Blau. Ein mediterraner Traum". Sie lotet ausgehend von Künstlern wie Goya und Mirò auf insgesamt 1.500 Quadratmetern die Extreme des mediterranen Kulturraums zwischen Licht und Schatten, Aufklärung und Ressentiment aus.

Gleichzeitig steht das Museum auch prototypisch für die von lokalen Akteuren stark kritisierte Konzentration der Kulturhauptstadt auf importierte Großprojekte. Ihre Ansicht, dass dabei die lokalen Kulturschaffenden und die Interessen der StadtbewohnerInnen zu kurz gekommen sind, hat auch zu einem Gegenprogramm geführt, das sich Marseille OFF nennt und an dem sich unter anderem die bunte Musikszene beteiligt, deren prominenteste Vertreter neben IAM Bands wie Massilia Sound System und Mossu T e lei jovents sind, die mit Reggae-, Blues- und Chansonanklängen, aber auch sprachlich und politisch die Migration, vor allem aber das okzitanische Erbe Südfrankreichs stark machen.

Marseille - eine Zusammensetzung

Trotz dieses Museumsgroßprojekts ist Marseille vor allem als literarischer und filmischer Ort im europäischen Gedächtnis geblieben. Kurioserweise aber waren es, schon bevor Marseille 2009 zur Kulturhauptstadt nominiert wurde, neben dem Regisseur Robert Guédiguian vor allem lokale Krimiautoren, die den Ruf der Stadt diversifizierten. Jean-Claude Izzo und Gilles Del Pappas verarbeiteten in ihren Romanen "Total Cheops" (1995, dt. 2000) und "Die Gassen von Marseille" (1998, dt. 2009) die Migration aus Griechenland, Italien und Spanien, aber auch aus dem nordafrikanischen Raum ebenso wie die sozialen Spannungen der Stadt, die von einem von der Arbeiterkultur geprägten Nord- und einem bürgerlichen Südteil geprägt ist.

Der Kommissar Fabio Montale und der Fotograf Constantin führen die LeserInnen seit Mitte der 1990er Jahre in den vielfach übersetzten Krimiserien nicht nur zu den Touristenorten um den alten Hafen, sondern auch zum Industriehafen und an die Ränder der Stadt. So sind auch die an die Clananques-Hügel angrenzenden nördlichen Viertel wie L'Estaque und Saint-Henri, wo eine archaische Architektur des 19. Jahrhunderts mit Hochhausbauten aus den Nachkriegsjahrzehnten kontrastiert, und die südliche Küsten- und Insellandschaft bei Les Goudes samt ihren Ausflugslokalen und Stränden als Pole einer spannungsreichen Stadt mehr als ein bloßer Begriff geworden.Diese Widersprüchlichkeiten Marseilles finden sich auch in einem oft beschworenen Bild wieder: Marseille sei keine eigentliche Metropole, sondern eine Zusammensetzung aus 111 Vierteln beziehungsweise Dörfern, die miteinander wenig zu tun hätten. (Daniel Winkler, derStandard.at, 7.6.2013)