Vor nunmehr fast einem Jahr, im Juni 2012, wurde in Genf ein Kommuniqué zur Syrienkrise verabschiedet. Seitdem ist leider wenig passiert, bis sich schließlich im Mai dieses Jahres für die Diplomatie im Syrien-Konflikt doch noch einmal eine Möglichkeit zu eröffnen schien.

Die zwischen John Kerry und Sergej Lawrow getroffene Vereinbarung für eine neue diplomatische Initiative "Genf II" ist eine riesige Chance, einen politischen Prozess in Gang zu bringen. Es ist nicht überraschend, dass diese Idee von allen Seiten schon wieder attackiert wird. Aber nach zwei Jahren der Zerstörung ist es unumgänglich, einen mutigen - und alle Akteure einschließenden - politischen Prozess anzustoßen. Eine diplomatische Lösung ist die wahrscheinlich einzige Möglichkeit, der leidenden Bevölkerung zu helfen, einer Radikalisierung des Konflikts vorzubeugen und die Region zu stabilisieren.

Strategische Notwendigkeit

Um das zu schaffen, muss der Westen neue diplomatische Wege finden, den Konflikt zu beenden - und auch politische Ambitionen hintanstellen. Das bedeutet leider auch, unpopuläre Kompromisse einzugehen: Zum Beispiel darf die Klärung der Frage nach Assads künftigem Schicksal nicht als Vorbedingung für den Beginn von Verhandlungen definiert werden. Und auch der Iran muss an einer diplomatischen Lösung beteiligt werden.

Das muss jetzt als strategische Notwendigkeit angesehen werden - und es würde nicht nur Syrien helfen, es würde auch die Region stabilisieren und dient letztendlich auch westlichen Sicherheitsinteressen.

Diejenigen im Westen, die sich für eine militärische Intervention einsetzen - durch die Errichtung von Flugverbotszonen, die direkte Bewaffnung der syrischen Rebellen oder Militärschläge gegen strategisch wichtige Einrichtungen des Regimes - haben in letzter Zeit zu großen Einfluss gewonnen. Sie argumentieren, dass eine dieser Maßnahmen das Fass schon zum Überlaufen bringen wird - und Baschar al-Assad dann auf einmal kapitulieren würde oder man ihn dann zwingen könnte, einem Kompromiss zuzustimmen.

Die russische Entscheidung, Syrien mit neuen Flugabwehrraketen und MIG- Kampfjets zu beliefern, war auch eine direkte Antwort auf Europas Beschluss, das Waffenembargo gegen Syrien aufzuheben - und eine Reaktion auf britische und französische Überlegungen, die Bewaffnung der Rebellen voranzutreiben.

Ein militärisches Eingreifen des Westens würde zur Eskalation auf allen Seiten führen: Der syrische Bürgerkrieg würde noch brutaler werden, Extremisten würden Aufwind bekommen, und das Land würde noch weiter im Chaos versinken.

Die Idee, dass der Westen von außen irgendwie die moderaten Kräfte in Syrien kontrollieren könnte, ist ein eher optimistischer Gedanke. Eine militärische Intervention führt immer zu einer Eskalation - und sie wird den Westen immer mehr in den Konflikt hineinziehen.

Die syrische Opposition und ihre Unterstützer in der Region würden militärische Unterstützung aus dem Westen dahingehend interpretieren, dass ihre Strategie, die auf eine totale Zerstörung des Regimes hinausläuft, aufgehen kann - und die Konsequenz wird sein, dass die Rebellen sich in ihren Maximalzielen bestärkt fühlen und der Politik keine Chance mehr geben werden.

In diesem Zusammenhang ist es nun Zeit für den Westen, einen neuen diplomatischen Weg auszuprobieren. Es wird nie den idealen Moment geben, die Opposition zu stärken und sie gleichzeitig vom Schlachtfeld an den Verhandlungstisch zu bringen. Aber während wir darüber weiter nachdenken, wird Syrien weiter zerstört.

Keine Vorbedingungen

Daher müssen wir an "Genf II" festhalten und den Prozess mit allen Mitteln vorantreiben. Auch wenn es ein schwieriger und steiniger Weg sein wird, muss der Westen das jetzt als oberste Priorität begreifen.

Der European Council on Foreign Relations (ECFR) - eine Denkfabrik - hat vor kurzem eine Strategie zur Deeskalation in Syrien vorgestellt, die darlegt, dass Verhandlungen nur erfolgreich sein können, wenn es keine Vorbedingungen gibt und alle Akteure - also auch der Iran - an einem Tisch sitzen. Für einen Plan wie diesen braucht es natürlich einen stabilen internationalen Konsens. Und die Verbündeten des Westens, die die syrische Opposition unterstützen - also die Golfstaaten und die Türkei zum Beispiel -, werden diesen Kurs nur unterstützen, wenn es ein unmissverständliches Bekenntnis zu "Genf II" gibt. So sollte Präsident Obama das als Priorität behandeln, wenn er sich mit dem russischen Präsidenten Putin am Rande des nächsten G8-Gipfels Mitte Juni in Nordirland trifft.

Ein internationales Bekenntnis zu "Genf II" und eine Strategie zur erfolgreichen Umsetzung dieses Prozesses würden eine Rückkehr der Politik und der Diplomatie bedeuten. Niemand erwartet, dass der Konflikt in Syrien bald zu Ende ist - Syrien ist zu zerrissen und es gibt viel zu viele Waffen im Land -, aber eine Rückkehr der Diplomatie würde dem Konflikt eine ganz neue Richtung geben. Und wenn alle Akteure auf beiden Seiten es wirklich mit der Diplomatie versuchen, kann es passieren, dass die kriegführenden Parteien ihre absoluten Ziele aufgeben und es wieder Anreize gibt, einen wirklichen Kompromiss zu verhandeln.

Wenn man sich den gegenwärtigen Kreislauf aus Eskalationen, Ankündigungen von neuen Waffenlieferungen, den diplomatischen Ausschluss von einigen Ländern und die lange Liste von Vorbedingungen verdeutlicht, wird klar, dass "Genf II" schwierig umzusetzen ist. Aber die Vereinigten Staaten und Europa können diesen Trend noch stoppen.

Die Alternative ist eine international sanktionierte Eskalation, die nicht nur Syrien, sondern die ganze Region an den Abgrund führen wird. (Jaap de Hoop Scheffer/Javier Solana, DER STANDARD, 6.6.2013)