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Willkommen in Deutschland: Hörfunkreporter interviewen den Portugiesen Amando Sa Rodrigues, der 1964 als einmillionster Gastarbeiter in die BRD kam, auf seinem frisch geschenkten Motorrad.

Foto: apa / dpa

Es hört sich so an, als würde man hier, in Berlins Mitte, einen Turm zu Babel errichten. Vom Baugerüst hallen Wörter, vertraute und fremd zischende, grollende und gurgelnde, musikalisch begleitet vom Rascheln jenes riesigen grauen Gewandes, welches das Haus umhüllt und beim leichtesten Windzug zuckt und bebt. Das plötzliche Seufzen dieses beschrifteten Tuches erschreckt die Vorbeieilenden manchmal, von Windzügen erzeugte Wellen animieren die riesigen Buchstaben, verzerren und verwandeln sie in unlesbare Zeichen, deren Anblick der Welt für einen Moment das Vertraute raubt.

Das Haus ist groß und alt, und sein Umbau beansprucht viele Hände. Ihre Arbeit verrichten die Männer im Verborgenen, unsichtbar hinter dem grauen Gewand. Zur Mittagspause kommen sie von ihrer Bühne herunter, stauen sich eine Weile auf dem Bürgersteig, dann laufen sie in kleinen Gruppen zum Supermarkt, wo ich meine täglichen Einkäufe mache. Tagaus, tagein schreite ich diese dreihundert Meter mit der proletarischen Internationale Schulter an Schulter, und allmählich schälen sich aus der farblosen Menge einzelne Gesichter heraus.

Die deutschen Arbeiter halten sich zusammen, reden laut und wirken sehr präsent, auch wegen ihrer Berufskleidung, die mit ihren Taschen, Gürteln und sonstigen Accessoires dem Outfit von Astronauten ähnelt. Die anderen, die alltägliche, verstaubte Bekleidung tragen, wirken zurückhaltend und reden leiser unter sich in den fremden Sprachen, deren Laute nach Bergen klingen, nach Steppen und Dörfern am Rande unseres Kontinents.

Schweigend legt einer von ihnen sein Brötchen, eine krumme Wurst und eine Flasche Bier auf das schwarze fahrende Band und reicht der Kassiererin einen neuen Fünfhunderter-Schein. "Haben Sie es nicht kleiner?", skandiert die Frau laut und zeigt auf die Münzen in der Kasse: "Kleiner!"

Der Mann schüttelt mit dem Kopf, ohne den Mund aufzumachen. Als die Kassiererin den Schein ins Büro zum Prüfen wegbringt, bleibt der Mann vor der großen Schlange stehen - grell beleuchtet, wortlos und allein, wie auf einer Bühne.

Wortlos und allein

Sein verstaubtes Haar wirkt tot, die Augen dagegen - schnell und scheu, wie ein Schwarm kleiner Fische. Seine Hände sind rau und braun, das Gesicht ebenso, aber nicht vom Strand. Denn da, wo er herkommt, fahren die Männer und Frauen im Sommer nicht ans Meer, sondern wandern durch Europa, wo sie spanische Orangen pflücken, deutsche Hühner schlachten, italienische Wohnungen putzen oder Moskauer Häuser bauen. Ihre Nester hinter den sieben Bergen hüten in der Zeit ihre Alten und Kleinen - wenn sie nicht im Heim landen.

Die Chefin mit dem Schein kommt immer noch nicht, und die Menschen in der Schlange husten und seufzen. Der Mann steht vorn, die Kulisse hinter ihm wie mit Absicht bestellt: zwei mannshohe volle Plastiksäcke mit Leergut, jeweils beschriftet "eigen" und "fremd".

"Fremdarbeiter" hießen solche Männer früher, das Wort kompromittierte sich dann im Dritten Reich, und für die Südländer, die in geregelten Strömen in das Nachkriegsdeutschland kamen, wurde ein neues Wort erfunden: "Gastarbeiter". Der Begriff aber erwies sich bald auch als problematisch - die "Gäste" schlugen gerne ihre Wurzeln in den fremden Boden, was dem ursprünglich vorgesehenen Rotationsprinzip - kommen und gehen - nicht entsprach. "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen", sagte Max Frisch zur prekären Lage der Arbeitnehmer. 1973 stoppte die Bundesrepublik das Anwerben der Arbeitskräfte im Ausland, die DDR warb Vertragsarbeitnehmer bis zum Schluss an.

Nach der Wende nahm der Strom ausländischer Arbeiter in Deutschland wieder zu, wurde bunter, diesmal kamen sie aus dem Osten. Zuerst aus den benachbarten Ländern, allmählich griffen die Schlagwellen dann immer weiter aus. Im frisch vereinigten, berauschten Deutschland gab es viele Schlupflöcher für die Schwarzarbeiter. Die einen kamen ohne Visum und tauchten unter, die anderen kamen mit Besuchervisum, arbeiteten hier drei Monate und fuhren mit den Tüten voller farbenfroher Geschenke zurück nach Hause. So machte das mehrere Jahre lang auch Timur, mein einstiger Studienkollege - wenn wir uns abends in einem Café trafen, holte er immer zur Bezahlung einen himmelblauen Hunderterschein heraus - es war sein Tagelohn für das Kachelnlegen.

Das war früher, heute leitet Timur in St. Petersburg ein Unternehmen, das Fremdarbeiter für russische Baustellen vermittelt: Das postsozialistische Land gilt heute als größtes europäisches Auffangbecken von Arbeitsmigranten. Inzwischen sind alle Fugen und Poren russischer Städte mit Arbeitsmigranten aus der Ukraine, Zentralasien und China gefüllt - sie fegen Straßen, arbeiten in der Landwirtschaft, im Kleinhandel, auf Baustellen, und im Volksmund heißen sie alle "Gastarbeiter". Das deutsche Wort ist in das russische Lexikon mit dem Vermerk "abwertend" eingegangen, in der Behördensprache ist daher von "Arbeitsmigranten" die Rede.

Auch in Deutschland heißen sie heute "Arbeitsmigranten", Gastarbeiter gehören der Vergangenheit an, festgehalten auf schwarzweißen Zeitungsfotos: adrett gekleidete Männer sitzen an der Schulbank, stehen am Fließband oder laufen mit vollen Tüten durch die deutschen Einkaufsstraßen - glatt gekämmtes Haar, weißes Hemd, glänzende Schuhe. Berühmt ist das Foto aus dem Jahr 1964 mit dem millionsten Gastarbeiter, wie er von Kamerablitzen geblendet mit einem Blumenstrauß das geschenkte Moped besteigt.

Unsichtbare Ameisenpfade

Die Männer (Arme voller Biere und Würste), die neben mir laufen, haben mit diesen monochromen Ur-Gastarbeitern wenig Ähnlichkeit - sie wirken lichtscheu und weichen direkten Blicken aus, als ob sie unsichtbar sein wollten.

Über das Schattenwesen ausländischer Arbeitsmigranten in der EU sind wir durch unsere Medien gut informiert: Sie kommen halblegal aus Bulgarien oder Rumänien, oder sie strömen aus dem weiteren Osten illegal herbei, auf unsichtbaren Ameisenpfaden. Oft beklagen die Arbeitgeber ihren mangelnden Fleiß und ihre fehlende Qualifikation, nichtsdestotrotz nimmt die Nachfrage nach billigen Arbeitern nicht ab, eher zu.

Denn sie sind flexibel, sie kommen und gehen, die meisten von ihnen sind allein, ohne ihre Kinder unterwegs - ganz im Sinne des ursprünglich gewollten Rotationsprinzips. Es ist bekannt, dass jede anständige europäische Stadt inzwischen einen Ort hat, wo billige Tagelöhner feilgeboten werden, nicht einmal ist diesbezüglich das Wort "Sklavenmarkt" gefallen. Unbekannt bleibt nur, wie viele Millionen Menschen in der EU auf Zeit leben und arbeiten.

Wenn ich neben den Fremdarbeitern trabe und ihren fremden Wörtern lausche, erwischt mich oft eine kleine optische Täuschung, und ich sehe den vertrauten Straßenabschnitt plötzlich anders, mit den Augen der Fremden. Rechter Hand eng aneinandergeparkte Autos - solide, mit kräftigen Hintern und edle, untersetzte mit animalischen Atemkiemen. Links - geschmückte Schaufenster: Das Plakat auf der Supermarktfassade bietet Fleischberge und Bottiche Nutella zu Spottpreisen und eine kulinarische Donaukreuzfahrt an. Auf der Bank vor dem nächsten Haus sitzen junge deutsche Männer mit kräftigen sonnengebrannten Waden, das Schauglas hinter ihnen ist mit Fotos gepiercter und tätowierter Brustwarzen und Hintern beklebt. Das nächste Geschäft bietet Proteinnahrung, das danach - Reizwäsche und Sexspielzeuge, im nächsten haust ein Nailstudio ...

Oft denke ich, dass die verstaubten fremden Männer vielleicht nie in einem Berliner Museum waren oder auf einem Multikulti-Straßenfest oder im Schwimmbad, und das Einzige, was sie nebst knisterndem Geldschein mit nach Hause nehmen, wird die Erinnerung an das Rascheln der riesigen grauen Plastikplane sein und die Erinnerung an diese unsere Strecke zum Supermarkt, geschmückt mit Autos, Latexunterhosen und künstlichen Fingernägeln.

Da frage ich mich immer, was sie alle da drüben über uns denken, diese fremden Männer, mit Händen, hart und rissig wie Ton, und die Frauen mit kleinen und schmalen Händen, die irgendwo in Bangladesch für uns weiße Sommerhosen für sagenhafte 3,99 Euro nähen.   (Nellja Veremej, Album, DER STANDARD, 8./9.6.2013)