"Ohne hohe Kulinarik, Chinaturm und Wellnessinseln kämen die Leute nicht zu jeder Jahreszeit an derart harte Orte": Hotel Hochschober.

Foto: Hotel Hochschober

Die Turracher Höhe ist ein Platz der Schönheit und Idylle.

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Bis vor etwas mehr als hundert Jahren wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, hier zu leben.

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Die außergewöhnlich bestückte Bibliothek des Hochschober.

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Im Hamam geht sich noch der eine oder andere kräftige Klopfer aus.

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Der letzte Tag, an nichts wäre er zu bemerken. Hinter der schweren Bar das feste, metallische Klacken, mit dem ein neuer Espresso eingespannt wird. Zwei Frauen auf den ledernen Barhockern, die genau so Ende dreißig wie Anfang fünfzig sein könnten, während beim offenen Kamin ein Mann, der vielleicht nur älter wirkt als er ist, in seiner großformatigen Zeitung blättert.

Es ist die Zeit kurz nach Mittag. Eine Kellnerin balanciert Teller von der hellen Sonnenterrasse herein. Jeden Schritt kennt sie blind, sie blinzelt nicht einmal in dem einen Moment, in dem sie in den Schatten des Café-Bar-Bereiches tritt, und bringt auch am letzten Tag der Saison ihre Fracht sicher in die Küche.

Nicht anders als blind auch die Bewegungen des Barmanns. Man würde es nicht einmal merken, schlösse er einfach die Augen, während er schwungvoll den Löffel, Zucker und eine Mini-Bäckerei auf dem kleinen, silbernen Tablett drapiert. Vielleicht tut er es manchmal sogar.

Es ist Sonntag, der 14. April, in einem großen Hotel in den Bergen. Draußen steht die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel. Schneeberge türmen sich rings um die Parkplätze vor dem Hotel. Kein Flecken Grün auf den Hängen rundum, nur an den steileren Stellen die dunklen Spuren der Nassschnee-Lawinen, wie sie um die Jahreszeit ab dem späten Vormittag unvermeidlich mit der Tageserwärmung kommen. Braune, erdige Spuren sind es. Das Wasser im Schnee lässt die Lawinen mit solcher Gewalt abreissen, dass sie stets auch ein Stück der dünnen Grasnarbe mitnehmen.

Wochenlang werden nun die Bäche mit Schneewasser ins Tal rauschen, reißend und breit, selbst jene Wasserläufe, die man im August oder September gar nicht als solche erkennt. Vor dem Hotel ist es in diesen Augenblicken still, nur vom Dach fallen die Tautropfen hinter den mit hohen Schutzfaktoren eingeschmierten Sonnenanbetern in dichter Folge auf den Asfalt.

Es ist kurz nach 14 Uhr. Am Mittagsbuffet gibt es an diesem Sonntag Backhuhn, Erdäpfelsalat, sowie eine für Vegetarier kaum weniger attraktive Variante. Noch eine knappe Stunde hat das Hotel Hochschober geöffnet und die Leute kommen in aller Ruhe zum Buffet.

Noch ein paar kräftige Klopfer

Bis pünktlich um 15 Uhr soll das Hotel auch am Schließtag ohne Abstriche den Gästen gehören, so erzählte mir Karin Leeb, die Chefin des Hauses, Ende März von diesem Tag und ihrer Maxime, als ich mich, nicht zuletzt von Filmbildern leerer Hotels wie in Shining angelockt, auf die Spur der Schließzeiten heftete. Bis 15 Uhr ist eine gute Dreiviertelstunde Zeit, und so wird im Hamam sicher noch der eine oder andere kräftige Klopfer verteilt, sowie der letzte kalte Guss, während im beheizten Pool im See die Schwimmer ihre Längen ziehen.

Die anderen Hotels auf der Passhöhe haben bereits geschlossen. Der jüngst ausgebaute Jägerwirt, direkt am See, im Nordosten des Hochschober, etwa bereits seit zwei Wochen. Das Schlosshotel Seewirt, jenes nicht eigentlich am Turracher See, sondern einen guten Kilometer nördlich an einem kleinen Teich gelegene Haus, machte vor einer Woche Saisonschluss. Es ist das älteste Gasthaus auf der Turracher Höhe, in dem sich früher Steinmetze, Fuhrleute, Holzfäller und Köhler trafen. Heute gibt es hier Haubenküche.

Der Jägerwirt wiederum, so berichtet Karin Leebs Mutter in ihren Lebenserinnerungen, habe früher den weit größeren Umsatz gehabt als ihr erst im Aufholen so groß gewordener Hochschober - vor allem bei Tagesgästen. Früher, und das mag weit weg klingen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auf der Turracher Höhe noch in den fünfziger Jahren jeden Winter das Eis am See in dreiviertel Meter dicke Blöcke geschlagen und in eigenen Eiskellern, sowie in den Anthrazit- Kohlestollen, zur Kühlung aufbewahrt wurde, damit im Sommer Fleisch und anderen Lebensmittel kalt gelagert werden konnten, da die Passhöhe erst 1956 an das elektrische Stromnetz angeschlossen wurde.

Gleichzeitig ist gerade dieses Früher auf einem Pass wie der Turracher Höhe sehr nahe, wenn man angesichts der im engeren Sinn ungefähr tausendjährigen Besiedlungs- und Bewirtschaftungsgeschichte der Alpen bedenkt, dass die Turrach erst durch die allmähliche Entwicklung des Fremdenverkehrs in den späten 1920er Jahren zu einer kleinen, ganzjährig bewohnten Siedlung wurde.

Es ist 14 Uhr 30. Erneut die Geräusche zweier neuer Espressi an der Bar. Peter Tschuschnig, der Prokurist des Hochschober hat die wichtigsten organisatorischen Knackpunkte des bereits ablaufenden Countdowns und der entscheidenden ersten Stunden des Umbaus auf einem Post-it-Zettel an der Innenseite eines Kalenders.

Noch trägt er, wie an jedem Tag hier, seine elegante Hose sowie Krawatte zum Hemd. Pünktlich um drei wird er auf einmal in einer Jean stecken, mit dem Mobiltelefon am Ohr, das jetzt noch, auch das gehört zur Maxime, lautlos gestellt ist. Er bestellt einen kleinen Espresso an der Bar und blickt sich um.

In weniger als einer halben Stunde wird vor dem Hotelportal ein großer, orangefarbener Bagger, wie kleine Buben ihn sich in all seiner Wendigkeit und Kraft erträumen, aus einem Versteck hinter der Garage auftauchen und so irre schnell wie auf fast forward geschaltet die Schneeberge entlang der Parkplatzreihen vor dem Hotel abtragen und sie auf den freien Flächen ringsum verteilen, dass zur Wiedereröffnung am 1. Juni trotz der sicherlich noch bevorstehenden Schlechtwettereinbrüche und Schneefälle zumindest kein Altschnee vor dem Haus liegt.

Erfindungen aus der Pionierzeit

Peter Tschuschnig gehört zum Urgestein des Hotels. Und wenn nun im Stammhaus über der Lobby kaum ein Stein auf dem anderen bleiben wird, warten auf die Handwerker vermutlich Überraschungen, die noch aus der Pionierzeit des Tourismus herrühren. Eine Zeit, in der die Turracher Höhe von einer Handvoll Familien gewissermaßen erst erfunden wurde. Und das bis heute.

Wie von den Brandstätters, die ursprünglich den Seewirt bewirtschafteten und ihr heutiges Hotel, den Jägerwirt, zuerst nur als Nebenstandort ausbauten. Bis sie 1954, als der Seewirt von den Schwarzenbergs verkaufte wurde, den kürzeren zogen und sich ganz auf das Hotel Jägerwirt konzentrierten.

Richtiggehend neu in dem Kreis der Turracher Hoteliersfamilien sind hingegen Elke und Richard Prodinger. Als Bauernkind, so erzählt Elke Prodinger bei meiner ersten Schließzeiten-Fahrt auf die Turrach, seien ihr Hotels als das Größte überhaupt erschienen. Ein Haus wie den Seewirt, und am liebsten genau diesen, hatte sie damals gesagt, möchte sie einmal führen. Heute tut sie es, und das gern, wie man auf der Stelle spürt.

Dass sie aber vom Saisonschluss gänzlich anderes erzählt, ist nicht zuletzt dem Unterschied an Größe zu einem so vielschichtigen Ganzjahreskosmos wie dem Hochschober in seiner Modellhaftigkeit geschuldet. Zwar gibt es auch bei Elke Prodinger keine strikte Trennung zwischen Sommer- und Wintersaison samt langer Schließzeiten mehr. Dafür sind es im Schlosshotel zwischen Ostern und Weihnachten gleich mehrere Pausen, und damit weniger Druck.

Zu Saisonschluss geht sie dann zuerst mit einer Räuchermischung durch ihr Haus, bevor im schönsten und hellsten Raum ein langer Tisch für die Familie aufgestellt wird, an dem es sich gut gemeinsam essen und trinken lässt. Im Hochschober hingegen sind die sechs Wochen ab dem 14. April die einzige Schließzeit im Jahr. Dementsprechende Spannung konzentriert sich hier auf die Stunden rund um den Saisonschluss.

Bis zur letzten Minute müssen die Kulissen des Hotels bis ins kleinste Detail unangetastet bleiben, während die Erwartung an das Danach und seine etwaigen Überraschungen beinahe explodiert, da ein genaues Vermessen des umzubauenden Traktes erst nach 15 Uhr geschehen kann.

An diesem Sonntag klappt alles wie am Schnürchen. Keinen Augenblick ließe einen etwa die Perfektion am Mittagsbuffet glauben, wie leer die Küche in den Augenblicken bereits ist. Mit fertig inventarisierten Vorräten und Speisen in den verschiedenen gekühlten Lagerräumen, blitzblank polierten Arbeitsflächen und Geräten. Fast so, als wäre die Küche seit Wochen oder gar Monaten nicht mehr in Betrieb.

Noch viel weniger vermutete man zu dem Zeitpunkt bereits Handwerker im Haus, die in jenen Zimmer, aus denen die Gäste am Vortag oder den Tagen davor abgereist waren, Waschbecken abmontieren, Spiegel, TV-Apparate, Toilettpapier- und Handtuchhalterungen, sowie Schrauben, Muttern und Beilagscheiben zur Wiederverwertung fein säuberlich ordnen.

Stille Minuten

14 Uhr 50: Vom Dach tropft es. Im tiefen Schnee auf den Bergen ringsum vervielfacht sich der Sonnenschein auf so gleissende Weise, dass sein Weiß als solches gar nicht wahrnehmbar ist. Es ist ein grelles Brennen, so unwirklich, als wäre es in den Augen tatsächlich ein Geräusch und keine Farbe.

Bis auf das Tropfen ist es ganz still. Die Lifte sind noch in Betrieb, doch sie laufen so gut wie leer. Auch für sie ist es der letzte Tag. Selbst mittags sind in den perfekt präparierten Hängen nur die Schwungspuren einzelner lesbar.

Nur wenige Minuten ist es jetzt noch still. So wie es das früher nach Saisonschluss monatelang war. Zu jener Zeit, in der es an einem auf 1800 Meter gelegenen Standort wie der Turracher Höhe gerade zwei Saisonen gegeben hatte. Einen kürzeren Sommer, einen längeren Winter. Kurz vor Weihnachten begann die Wintersaison und endete zu Ostern, während der Sommer zumeist nach dem Almauftrieb des Viehs begann und bald nach dem Abtrieb der Kühe auch wieder endete.

Zu allen anderen Zeiten des Jahres galten derartig hoch gelegene Orte im wahrsten Sinn des Wortes als unwirtlich. Allein um für diese beiden Saisonen Wärme und Licht für die Gäste bereitzustellen, Fleisch- und Milchprodukte zu kühlen, oder die Gäste und ihr Gepäck die damals noch deutlich steilere Passstraße überhaupt hinauf zu karren, war ein Riesenaufwand notwendig, der mit heute archaisch anmutenden Möglichkeiten bewerkstelligt wurde.

Gleichzeitig schienen in diesem so weit weg wirkenden, doch in Wirklichkeit immer noch sehr nahen Damals die Energieressourcen unerschöpflich zu sein. Man sieht das gerade hierzulande sowohl den Fremdenverkehrsburgen der Nachkriegszeit wie auch der Zersiedelung so vieler ländlicher Gegenden durch Einfamilienhäuser nur zu deutlich an.

Womöglich sind sie alle bald verlassen. Die Landflucht ist längst im Gang. Ihr tatsächliches Ausmaß wird sich erst zeigen, wenn tatsächlich die größtmögliche Erdöl-Förderrate erreicht sein wird. Vermutlich werden die mit Peak-Oil explodierenden Energiepreise nicht nur jegliches Pendlertum von heute auf morgen ad absurdum führen, sondern den gesamte Alltag in jenen Gegenden, in denen Auf-dem-Land-Wohnen heißt, mit dem eigenen Individualverkehr als Bewohner selbst in Transitregionen wie dem Inntal mehr zum CO2-Ausstoß als der LKW-Verkehr beizutragen.

Die Menschen abseits der Ballungszentren werden verschwinden, sie tun es jetzt schon. Es geschieht nur noch nicht in dem Ausmaß, das die einfache Regel vorgibt, dass mit der Arbeit auch die Menschen gehen. Doch sie war in den letzten Jahrzehnten von der Möglichkeit außer Kraft gesetzt, mit dem eigenen Personenkraftwagen innerhalb einer guten Stunde auch an Arbeitsstellen zu kommen, die Jahrzehnte davor eine halbe oder ganze Tagesstrecke entfernt gelegen wären.

Schönheit und Idylle

Vor allem aus den Alpen ist die Arbeit heute in einem Ausmaß wie in kaum einer anderen Landschaft Europas verschwunden. Der Bergbau beinahe vollständig, die agrarische Bewirtschaftung im Vergleich zu früher zu einem großen Teil, geblieben ist allein der jüngste Zweig, der Fremdenverkehr.

Dessen Klientel nimmt die erhöhten Transportkosten der eigenen Anreise in Freizeit und Urlaub immer noch lieber in Kauf als die aus dem gleichen Grund höheren Preise von Produkten aus den idyllischen Besuchsgegenden. Ganz gleich, ob es sich um Metalle, Salz, Milch oder Fleisch handelt.

Ausgesuchte Plätze von Schönheit und Idylle werden wohl genug Anziehungskraft für zumindest jene behalten, die sich nicht nur alles leisten können, sondern dieses Alles auch in einer Multiplikation, deren Ergebnisse sich in einem einzigen Leben weder in Zahlen noch in Erlebnissen, Erfahrungen oder andere Wahrnehmungsbestandteilen fassen lässt.

Die Turracher Höhe könnte ein solcher Ort sein. Die weiten, freien Hänge der Nockberge ringsum, deren Ecken und Kanten die Zeit auf eine Weise abgeschliffen hat, dass einen unwillkürlich das Gefühl berührt, zumindest sie könne nichts mehr erschüttern in dieser Welt.

Derartige lichte, offene Inseln werden es sein, die bleiben. Gut überschaubare Vorzeigewelten dessen, was in den Bergen einmal war. Das müssen nicht allein alpine Disneylands sein. Im Gegenteil, die verbliebenen Fremdenverkehrsinseln könnten durchaus eigene, funktionierende Wirtschaftskreisläufe werden. Beginnend etwa mit der immer größeren Selbstverständlichkeit, in denen das Rind, das Schwein und das Huhn auf der Speisekarte vom Bauern aus der Umgebung stammen, so wie auch Käse und Milch, Marmelade, Butter und Kräuter.

An manchen Orten könnte das tatsächlich dazu führen, dass Bauern von Tieren, die man streicheln kann, bevor sie gegessen werden, ohne demütigende Subventionen leben können. Sollte so etwas, und nicht wenige Zeichen sprechen dafür, gerade auf der Turracher Höhe passieren, wäre das keine schlechte Ironie der Sache. Denn kaum zufällig kommt der Name von dem alten Wort Durrach als jener Bezeichnung für eine Waldgegend, in der umgestürzte, dürre Bäume herumliegen. Und so ist bis vor etwas mehr als hundert Jahren auch kein Mensch auf die Idee gekommen, hier dauerhaft zu leben.

Es ist 15 Uhr. Auf der Stelle beginnt der Bagger nun den Schnee vor dem Hotel Hochschober abzutragen, während die Bauleute für die nächsten sechs Wochen teilweise im Drei-Schichten-Betrieb 24 Stunden pro Tag arbeiten werden. In einem Haus, das mittlerweile über ein so facettenreiches Angebot verfügt, dass man als Gast für Tage keinen Fuß mehr hinaus setzen muss, ohne Langeweile zu bekommen. Und das in Wirklichkeit wohl für weitaus länger, so außergewöhnlich bestückt ist die Bibliothek des Hochschober, dass sich manches Literaturhaus eine Scheibe davon abschneiden könnte

Natürlich, man kann das als abstrus empfinden. Doch gerade in den Bergen ist die Realität eine ebenso zugespitzte wie klare Sache: Ohne Hamam, hoher Kulinarik, beheiztem See-Pool, Chinaturm und Wellnesslandschaft kämen die Leute sicher nicht zu jeder Jahreszeit an derart harte Orte. Und ohne ganzjährigem Fremdenverkehr lässt es sich in den Bergen nicht mehr leben.

Das ist die Wirklichkeit. Selbst wenn es für ihr Funktionieren eine Parallelwelt braucht, deren Illusion so stark ist, dass kurz vor 15 Uhr kaum jemand den einzigen Lapsus des Countdowns bemerkt, als sich plötzlich ein junger Handwerker mit Werkzeugkoffer ins Foyer verirrt.

Er ist in der falschen Welt gelandet. Doch sie nimmt ihn nicht wahr. So ausschließlich ist eine Welt, deren Stoff aus Illusion besteht. Nicht im Urlaub und nicht nur im Hotel, sondern womöglich im ganzen Leben. (Martin Prinz, DER STANDARD, Album, 8.6.2013)