Liebe gegen Konventionen: Melvil Popaud und Suzanne Clément in "Laurence Anyways".

Foto: Thimfilm

Paris/ Wien - Die Geschichte beginnt mit einer Frage: "Was suchen Sie, Laurence Alia?", sagt eine Stimme aus dem Off. Die Frage führt in die Vergangenheit. 1989 lebt der Lehrer Laurence glücklich mit der Filmerin Fred. Seine andere Leidenschaft lebt er noch heimlich. Bald wird er sich neu einkleiden und Fred gestehen, dass er eine Frau im falschen Körper ist.

"Laurence Anyways", der dritte Spielfilm des 24-jährigen Frankokanadiers Xavier Dolan, erzählt anschließend in flamboyanten und herzergreifenden Sequenzen, in Momentaufnahmen und intensiven Dialogen, wie Laurence und Fred über ein Jahrzehnt hinweg versuchen, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten - oder eine Form zu (er)finden, die ihre Gefühle füreinander unter den neuen Bedingungen integrieren kann. Melvil Popaud spielt die Titelfigur, die Rolle der Fred hat Suzanne Clément übernommen. Sie hat mit Regisseur Dolan schon früher zusammengearbeitet.

STANDARD: Wann haben Sie Xavier Dolan kennengelernt?

Clément: Als er siebzehn war. Er hat als Schauspieler in einem Kurzfilm mitgewirkt - ein Freund von mir auch. Bei einer Party haben wir uns getroffen. Er hatte das Skript zu "I Killed My Mother" geschrieben, er war total aufgekratzt, energetisch - so wie er eben ist. Er hat gefragt, ob ich sein Drehbuch lesen würde - er hätte eine kleine Rolle für mich, wollte aber auch meine Meinung hören. Ich mochte es auf Anhieb. Es war toll geschrieben, bis hin zu den Dialogen. Damals hat unsere Freundschaft begonnen - unbewusst war ich hingerissen von seiner Haltung, alles tun zu können und alles tun zu wollen. Er ist verwegen.

STANDARD: "I Killed My Mother" wurde 2009 veröffentlicht. Wann haben Sie begonnen, an "Laurence Anyways" zu arbeiten?

Clément: Eigentlich wusste Xavier schon während des Drehs 2008, dass er das machen wollte. Er hatte die Idee da am Set, und er wusste auch schon, dass ich Fred spielen sollte. Dann habe ich mir aber eine Auszeit in Frankreich genommen, und er konnte das Geld ohnehin nicht gleich auftreiben. Irgendwann habe ich stattdessen gehört, dass er jetzt "Herzensbrecher" macht - auch, um als Regisseur Erfahrung zu sammeln.

STANDARD: Sie beide wirken wie ein eingeschworenes Team - wie hat sich Melvil Popaud eingefügt? Noch dazu, wo Dolan in seinen vorigen Filmen auch die männliche Hauptrolle verkörpert hatte?

Clément: Melvil selbst hat gemeint, dass Xavier die Rolle wohl gespielt hätte, wenn er nicht viel zu jung wäre. Ursprünglich war ein anderer Schauspieler besetzt, der ist zwei Wochen vor Drehbeginn ausgestiegen. Melvil sollte eigentlich nur eine kleine Rolle spielen, aber er hat sofort zugesagt, als Xavier ihn gefragt hat, ob er die Titelrolle übernehmen will. Anfangs hatte er es wirklich ein bisschen schwer, aber er hat das durch seine Erfahrenheit wettgemacht.

STANDARD: Ein stilistisches Charakteristikum von Dolans Filmen sind statische Einstellungen, die etwas von Studiofotografie haben - oft in Großaufnahme. Kostüme und Styling spielen dabei eine wichtige Rolle. Wird diesbezüglich beim Drehen noch experimentiert?

Clément: Xavier hat vieles genau schriftlich festgelegt - die Musik zum Beispiel: mit welcher Stelle ein Song einsetzt, wo man ihn ausblendet. Auch die Farben. Dann zieht er los und sucht die Kleidungsstücke. Zwei Jahre vor Drehbeginn sind wir mit dem Auto in eine schmale Straße gefahren, er hat mir einen Song vorgespielt, und er wusste schon genau, welche Szene daraus werden sollte.

STANDARD: Waren Sie damals noch bei der TV-Serie "Susan Paquin" engagiert? Worum ging es dabei?

Clément: Es war danach. "Sophie Paquin" ist Comedy. Sophie, meine Figur, ist Schauspielagentin, ihr Leben gerät völlig aus den Fugen. Gleich zu Beginn wird sie hochschwanger verlassen - und so fort. Mir hat daran die Komik gefallen, das habe ich zu dem Zeitpunkt gebraucht. Aber in Québec machen alle Schauspieler alles - Theater, Film, Fernsehen.

STANDARD: Kinofilme aus Québec machten zuletzt international Furore - womit hängt das zusammen?

Clément: Das stimmt, wir sind auf vielen Festivals vertreten - aber zu Hause wird nach wie vor beklagt, dass die Leute in Québec zu wenig heimische Filme sehen. Es hat mit der Blüte einer neuen Generation seit rund zehn Jahren zu tun - vorsichtig könnte man von einer "nouvelle vague québécoise" sprechen. Am Wichtigsten dafür war wohl die technologische Entwicklung, die digitalen Kameras. Xavier ist wohl der Jüngste, Philippe Falardeau, der Monsieur Lazhar gemacht hat, ist mehr mein Alter.

STANDARD: Wo ist "Laurence Anyways" da einzuordnen?

Clément: Xaviers Filme sind noch einmal anders. Es gibt eine neue Welle von interessanten Arbeiten, die eher minimalistisch gehalten sind und mit einem Changieren hin zum Dokumentarischen spielen, was derzeit weltweit gut ankommt, vor allem auf Festivals. Xavier dagegen mischt lieber die Stile, er ist vielleicht auch ein bisschen amerikanischer.

STANDARD: Die "Elle Québec" hat voriges Jahr eine Titelgeschichte mit Ihnen gemacht und Sie als "Muse von Xavier Dolan" bezeichnet - wie fanden Sie das?

Clément: Xavier hat viele neue Projekte im Kopf - und viele Musen! Ich bin eine davon, das passt schon. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 21.6.2013)