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US-Präsident Barack Obama mit Aufdecker Snowden im Nacken: Wahrnehmung des NSA-Skandals bei einer Protestkundgebung der deutschen Piratenpartei.

Foto: Reuters

 

Zwei Menschen sind abgetaucht im riesigen China. Über den einen - es handelt sich um den amerikanischen Ex-Agenten Edward Snowden - spricht inzwischen die ganze Welt, liefern seine Enthüllungen über die Digitalspionage der National Security Agency (NSA) doch genug Stoff zu Angst und Entrüstung: Big Brother, dein Name war und ist USA.

Über den anderen redet derweilen niemand, denn der Fotograf und Dokumentarfilmer Du Bin vermag nicht wie Snowden im (noch immer) halbfreien Hongkong ein Interview nach dem anderen geben, sondern wurde bereits am 31. Mai von der Pekinger Polizei verschleppt und ist seither verschwunden. Dabei sind Du Bins Enthüllungen wahrscheinlich noch brisanter: Zum ersten Mal hatte es hier jemand gewagt, die Folter- und Mordpraxis im chinesischen Umerziehungslager Masanjia zu dokumentieren, wo vor allem Produkte für den westlichen Markt hergestellt werden.

Bereits zuvor hatte ein Hilfeschrei aus diesem Lager den Westen erreicht: Beim Auspacken einer in China hergestellten Halloween- Dekoration war einer Hausfrau im amerikanischen Oregon ein handgeschriebener Zettel in rudimentärem Englisch in die Hände gefallen, auf dem ein Gefangener von der unerträglichen Folter der 15-Stunden- Arbeitstage schrieb, von den Schlägen der Wachmannschaft, auf dass noch schneller gearbeitet werde - für den Export in unsere Welt.

Großer Aufschrei

Die Nachricht war danach durch verschiedene Medien gegangen, Menschenrechtsorganisationen nahmen sich des Falls an, doch der große Aufschrei blieb aus, obwohl es in der Volksrepublik doch Hunderte solcher Lager gibt, in denen für unseren Konsumismus geschuftet wird.

Über die Gründe des Wegsehens muss man nicht einmal spekulieren. Verbrechen und Untaten werden nämlich vor allem dann als solche angeklagt, wenn sie allein dem Westen angelastet werden können, zum Beispiel Nestlé, Shell, Adidas oder McDonald's. Mit präziser Selbstkritik als movens freier Gesellschaften haben diese Riten längst nichts mehr gemein - einerseits generalisierend und hysterisch, andererseits von geradezu kaltschnäuziger Ignoranz. Würden es nämlich die Attac- und "Occupy"-Aktivisten (dieser Welt, die Naomi Kleins und Michael Moores, die Jean Zieglers und Slavo Zizeks wirklich ernst nehmen mit einem emanzipatorischen Impuls: Sie könnten wohl vor jeder chinesischen Institution im westlichen Ausland Demonstrationen veranstalten.

Grosny ist weit

Das Ausbleiben hat freilich Tradition, und die Beispielliste ist deprimierend: So zählen bis heute die Gräuel des Vietnamkrieges zu den bestdokumentierten der Welt, während die Massenmorde nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 nicht einmal verdrängt sind, sondern kaum je zur Kenntnis genommen wurden - dabei war die Moskauer Aggression der eigentliche Startschuss für den bis heute andauernden Krieg im Hindukusch.

Auch das irakische Gefängnis Abu Ghraib begann für unsere Öffentlichkeit erst dann zu existieren, als Amerikaner unter den Missetätern ausgemacht wurden, während zuvor die dortigen, weit schlimmeren Folterpraktiken zu Saddam Husseins Zeiten höchstens Amnesty International oder Human Right' s Watch alarmiert hatten. Auch während des Tschetschenienkrieges hatte es jenes merkwürdige Auf und Ab der Empörung gegeben: Was dem vermeintlich prowestlichen Jelzin nicht verziehen wurde - da man auf diesem Umweg auch dessen "Saunafreund" Helmut Kohl eins auswischen konnte -, wurde im Falle des erklärten Nationalisten Putin lediglich mit Achselzucken bedacht: Andere Länder, andere Sitten, und Grosny ist weit.

Hyper-Selbstkritik als Signum der westlichen Demokratie

Hier griff das gleiche Muster, dass schon vor 1989 zu beobachten gewesen war: Helle Empörung über die Pershing-2-Stationierung bei gleichzeitigem Ignorieren der sowjetischen SS-20-Raketen. Und welche Kontinuität auch im Jahre 2013: Während lautstark der Boykott israelischer Westbank-Waren gefordert und unsere Gesellschaft des "Sexismus" geziehen wird, interessiert das Schicksal jener zahlreichen jungen Frauen und Männer nicht im Geringsten, die in den EU-alimentierten Palästinensergebieten Opfer von " Ehrenmorden" werden, als angebliche "Ehebrecherinnen" oder Homosexuelle regelrecht abgeschlachtet.

Schönredner solch selektiver Aufmerksamkeit verweisen stets darauf, dass nun einmal jeder zuvörderst vor der eigenen Haustür kehren solle und Hyper-Selbstkritik doch geradezu das Signum der westlichen Demokratien sei - denen man dann allerdings im gleichen Atemzug ihren demokratischen Charakter abspricht. Das Geplapper, das im Übrigen bereits weit ins politisch korrekte bürgerliche Milieu vorgedrungen ist, sorgt sich weniger um die konkrete Verbesserung im Inneren der Demokratien als um ein permanentes Unter-Verdacht-Setzen zum eigenen egoistischen Distinktionsgewinn, während gleichzeitig die Wohltaten des verteufelten Westens weiterhin genossen werden.

Assange sucht bei autoritärem Präsidenten um Asyl an

Der mutmaßliche Vergewaltiger Julian Assange ist nur ein besonders prominentes Beispiel dafür: Zuvor als Wikileaks-Initiator vor allem mit dem Desavouieren westlicher Staaten beschäftigt, findet er es keineswegs seltsam, ausgerechnet um "politisches Asyl" nachzufragen in der Londoner Botschaft des Staates Ecuador, dessen autoritärer Präsident Correa jeglichen kritischen Journalismus im Lande abwürgt .

Ein Muster, das sich nun im Falle Edward Snowdens wiederholt, während eine aufgeregte Öffentlichkeit wieder einmal bestätigt findet, dass der Westen von dunklen Mächten dominiert wird, deren unwissende Leidtragende "wir" sind: gestern der "Überwachungsstaat" während der Volkszählung von 1987, heute eine unheilige Allianz aus Facebook, Google und Geheimdienst.

Die Maßlosigkeit der vorgetragenen Kritik behindert dabei deren nötige Effizienz. "Konsumterror" und "Wir amüsieren uns zu Tode" lauten weitere der angeberischen Selbsthasserslogans, und auch sie dienen lediglich dazu, einen angemaßten Opferstatus zu verteidigen, während die tatsächlich Gedemütigten dieser Welt wohl keineswegs an einem Zuviel an Konsum und Amüsement zugrunde gehen. Die Geschichte mit dem Häftlingszettel in der Halloween-Verpackung ist deshalb hochsymbolisch: Hinter dem behaglichen Pappgrusel lauert das wirkliche Elend. Wie lange wollen wir es wohl noch ignorieren, wir Kollaborateure menschenverachtender Diktaturen? (Marko Martin, DER STANDARD, 26.6.2013)