"Die Legende sagt, wenn man gelogen hat und seine Hand da reinhält, wird sie abgebissen." - "Schrecklicher Gedanke.": Audrey Hepburn und Gregory Peck vor dem "Mund der Wahrheit" in Rom.

Abb. aus "Ein Herz und eine Krone" (1953); Bearbeitung: Friesenbichler

Nonkonformismus ist kein Geschäftsmodell, und wer sich als Öffentlichkeitsarbeiter, als Journalist oder Buchautor dafür feiern lässt, dass er dem liberalen Justemilieu das Stöckchen hinhält, über das die Dümmsten dann springen, hat keine Aufmerksamkeit, sondern Verachtung verdient.

Diese blinzelnden Opportunisten des Zeitgeistes, die sich verwegen und unzeitgemäß geben, wenn sie die Orthodoxie loben (denn das, wissen sie, ist momentan schick und unorthodox), brechen dann eben eine Lanze für den Papst (oder den Kommunismus: Hauptsache, es ist "schrill") und führen auf offener Bühne das Wunder der Wandlung vor: Eben noch posierten sie als linksradikal, jetzt frömmeln sie altkatholisch nach der Tridentinischen Messe - das Schema ist bekannt, es heißt "junge Hure, alte Betschwester" und ist kein Kennzeichen für existenziellen Nonkonformismus, sondern dessen blasphemische Spottgeburt.

Doch der existenzielle Nonkonformist hat neben solchen querdenkerischen "Konformisten des Andersseins" (Norbert Bolz) noch einen weiteren Feind: den Leitartikler. Denn der sagt nicht freimütig seine Wahrheit, sondern die Wahrheit, im Brustton der Überzeugung, denn das, glaubt er, sei er schon der Textsorte Leitartikel und der Bedeutung seines Blattes schuldig. 

Mit Bleifuß auf dem Moralpedal

Er schreibt mit Bleifuß auf dem Moralpedal und sieht sich als Sprachrohr des Weltgeistes, als privilegierter Beobachter: sozusagen ein Wiedergänger der verrückten Idee Stefan Georges vom "Dichter als Führer" - nun ist es, ebenso pompös und größenwahnsinnig, der Leitartikler als Führer. Und dann kommt es eben wie unlängst auf Seite 1 einer Hamburger Wochenzeitung tatsächlich zur grandiosen Überschrift "Die Menschheit muss jetzt umlernen", was man wohl als gesamtleitartikelnden Griff nach der journalistischen Weltmacht verstehen darf.

Was bedeutet das alles für den zeitgemäßen Nonkonformisten, der seinen Weg zwischen eitlem Querdenkertum und selbstgefälligem Leitartiklertum finden muss? Es bedeutet zum einen, dass er weiß, wie schnell professioneller Nonkonformismus korrumpiert und aus einem Lautsprecher mit guten Absichten einen scheinheiligen Selbstdarsteller macht. Es bedeutet zum anderen, dass er sich in seiner Eigenschaft als Nonkonformist nicht sogleich an die ganze Menschheit wendet. 

Schmerzhafte Wahrheit

Wenn heutzutage nur noch schwer zwischen herrschenden und abweichenden Meinungen zu unterscheiden ist, wird sich ein ehrlicher Nonkonformist, der seiner Pflicht nachkommt und also den Konformismus attackiert, vorzugsweise an die eigene Bezugsgruppe wenden. Tapferkeit vor dem Freund sei's Panier! Es sind die eigenen Leute, denen der existenzielle Nonkonformist seine Wahrheit, seine abweichende Wahrheit, freimütig mitteilt.

Und dann wird er merken, dass die Rede von der liberalen und toleranten und permissiven Gesellschaft vielleicht im Allgemeinen, aber nicht im Besonderen zutrifft: Im Freundeskreis seine Wahrheit zu sagen, so wird der Nonkonformist bald erfahren, kann ziemlich schmerzhaft sein, was immerhin eine Bestätigung dafür ist, auf dem richtigen Weg zu sein und nicht nur ein Wichtigtuer, der sich für etwas Besonderes hält.

Mit Besserwissen auf die Nerven gehen

Freimütig die Wahrheit zu sagen ist des existenziellen Nonkonformisten edelstes Ziel. Was aber, wenn seine Wahrheit falsch ist, wenn die anderen, die er für dumpfe Konformisten hält, recht haben? Dieser Gefahr kann auch der zeitgemäße Nonkonformist nicht prinzipiell entgehen. Sie könnte ihn freilich klug machen und daran hindern, immerzu seine Wahrheit hinauszuposaunen und allen unschuldigen Menschen mit seinem Anderssein und Besserwissen auf die Nerven zu gehen.

Muss man überhaupt zu allem und jedem eine Meinung haben? Wäre es nicht auch schön, sich für manches gar nicht zu interessieren, oder ist man dann jemand, der "wegsieht"? Und selbst wenn man eine Meinung hätte, könnte man sie doch für sich behalten, es merkt ja keiner! Ist es denn wirklich nötig für einen einfachen Zeitungsleser, sich mit Stentorstimme ausgerechnet über diese dämliche Panzerlieferung zu ereifern, oder ist das nicht doch Leitartikelsenf, den man sehr billig dazugibt? 

Ist er nicht doch eher ein Fatzke?

Oder die Posse um den Bahnhof in einer süddeutschen Weltstadt: Wer nicht unmittelbar davon betroffen ist, weil er glücklicherweise woanders lebt, und sich trotzdem dazu äußert, egal ob pro oder kontra, macht sich verdächtig. Mit ehrlichem Nonkonformismus hat das jedenfalls nichts zu tun.

Als Faustregel kann man sich merken: Wer im großen oder kleinen Kreis etwas sagen will, was ihn als moralisch hochstehenden Menschen gut aussehen lässt, ist mit Vorsicht zu genießen. Ist er wirklich am Thema interessiert oder nicht doch eher ein Fatzke? Dass er kein Nonkonformist ist, lässt sich schon daran erkennen, dass er nicht fürchten muss, einen Preis zu zahlen: Er macht nur Reklame für sich selbst.

Wer im kleinen oder großen Kreis etwas sagen will, was vermutlich Ärger machen wird, sollte es sich vorher noch einmal überlegen: Steht es dafür? Wenn es ihm dann wirklich wichtig ist ("ein Anliegen"), muss er eben seine Wahrheit sagen und im Guten wie im Bösen die Folgen auf sich nehmen. Und dann kann es ihm nicht einmal mehr etwas ausmachen, wenn er berechtigt Prügel bekommt, weil er (nicht zum ersten Mal, fürchte ich) Unsinn gesagt hat: Er ist und bleibt auch als ehrlicher, aufrechter, mutiger Tor ein existenzieller Nonkonformist, an dem alle Menschen guten Willens (und guten Widerspruchs) ihr Wohlgefallen haben. (Kurt Scheel, DER STANDARD, 29.6.2013)