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Standing Man: Der stille Protest gegen die Regierung Erdogan in der Türkei weitete sich über Social Media aus.

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Herbert Gottweis: "Ich habe studiert, warum muss ich mir jetzt diese autoritäre Politik bieten lassen?"

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Ein Mann mit zwei Einkaufstaschen wurde am 5. Juni 1989 zum Symbol für friedlichen Widerstand. Er stellte sich in Peking vor eine Panzerkolonne, um sie am Weiterfahren zu hindern, und begann, mit einem der Soldaten zu diskutieren. Die Aktion erregte weltweites Aufsehen: Denn am Tag zuvor war der Aufstand gegen die chinesischen Machthaber, in dem es unter anderem um das Recht auf freie Meinungsäußerung ging, brutal niedergeschlagen worden. Die Demonstration am Tiananmen-Platz endete blutig. Journalisten und Fotografen internationaler Medien waren damals in Peking, um aktuelle Berichte und Bilder an ihre Auftraggeber zu schicken.

Es dauerte einige Minuten, bis "Tank Man", wie man ihn seither nennt, weggeführt wurde. Einige Männer wurden handgreiflich. Laut Berichten von internationalen Fotografen waren es chinesische Regierungsbeamte. Andere Augenzeugenberichte behaupten, es seien Zivilisten gewesen, die den wagemutigen Chinesen retten wollten. Auch über seinen Verbleib gibt es nur Vermutungen. Einige Quellen sagen, er sei hingerichtet worden, andere wieder berichten, er sei untergetaucht.

Aktion am Taksim-Platz

Das Bild des "unbekannten Rebellen", wie ihn das Time-Magazine Jahre später in einer Hommage nannte, ging tags darauf um die Welt. Heute würde es im Internet nur einige Stunden dauern, bis es weltweit verbreitet wäre. Ein aktuelles Beispiel beweist es: "Standing Man", die Aktion des Performancekünstlers Erdem Gündüz, der schweigend stehend am Istanbuler Taksim-Platz gegen die türkische Regierung protestierte, fand über Kanäle wie Twitter oder Facebook rasch Nachahmer - in der Türkei und sogar im Ausland wie zum Beispiel am Berliner Alexanderplatz. Die politische Mobilisierung, die Bereitschaft der einfachen Leute, Konflikte mit Machthabern auszutragen, hat eine Dynamik gewonnen, von der man in den Zeiten des Aufstands in China noch nicht einmal zu träumen wagte. Die heute, Mittwoch, beginnende Konferenz der interpretativen Politikfeldanalyse (IPA) am Campus der Uni Wien macht genau das zum Thema.

Was bewegt die Menschen in der Türkei oder in Brasilien? Das Internet habe die Rolle des Verstärkers, sagt der Wiener Politikwissenschafter Herbert Gottweis, einer der Organisatoren der Großkonferenz. "Gesellschaften durchleben Wellen der politischen Mobilisierung - auch ohne Hilfe der Neuen Medien", sagt er. Derzeit sei man in Ländern in einem Wellenhoch, "wo eine junge Generation heranwächst, die intellektuell über den regierenden Politikern steht und sich unfaire Behandlung nicht mehr gefallen lassen will."

Ethisierung der Gesellschaft

Gottweis spricht von einer Ethisierung der Gesellschaft: "Junge Türken gehen ins Ausland, um zu studieren, und sehen nach ihrer Rückkehr, dass der gelebte Alltag in der Heimat mit ihren Werten nicht mehr zusammenpasst." Sie sagen: Ich habe studiert, ich kann mir ein Auto und eine Wohnung leisten, warum muss ich mir die autoritäre Politik bieten lassen?" In Brasilien begannen die Unruhen zu Beginn des Fußball Confederation Cups offenbar auch aufgrund eines Widerspruchs, der gerade während dieser Veranstaltung offensichtlich wurde: Ein Staat, der viel Geld für die Austragung zweier Sportgroßereignisse - der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016 - ausgibt, müsste sich auch tiefgreifende soziale Reformen leisten können. Die Brasilianer demonstrierten gegen Teuerungen und gegen die "Weltmeisterschaft der Reichen".

Gottweis weiß natürlich, dass keine der aktuellen Protestbewegungen ohne "die Macht der Worte" auskommt. In der Türkei konnte man das anhand eines Wortes beobachten, das eigentlich jener Mann sagte, gegen den die Demonstranten auftraten: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nannte die Demonstranten als "Capulçu" (Plünderer), worauf sich zahllose Sympathisanten in sozialen Netzwerken dieses Wort als weiteren Vornamen in ihr Profil schrieben. Ein Schimpfwort wurde Trotzwort, wie es Linguisten nennen.

Die Sprache als Instrument der Mobilisierung, "nicht nur bottom-up durch Protestbewegungen, sondern auch top-down durch Machthaber", ist schon lange ein Thema der Sozialwissenschafterin Ruth Wodak, 1996 die erste Wittgenstein-Preisträgerin: "Schon die antiken Rhetoriker wussten genau, in welcher Form sie Pathos, Logos oder Ethos als Stilmittel bei politischen Reden verwenden." Bis heute sei die "Politik der Gefühle" ein Mittel der Populisten - ob nun rechts oder links sei zweitrangig, wobei natürlich nicht nur die Form, sondern die Kombination von Form und Inhalt ausschlaggebend sei. Ein Höhepunkt sei die Nazirhetorik gewesen. "Eine metaphernreiche, hetzerische und rassistische Angstmache, die erstmals über Lautsprecher in ganzen Städten übertragen wurde."

Auch Wodak misst dem Bild eine große symbolische Bedeutung bei. "Hier kann jeder seine Erfahrungen mit einem Thema hineinprojizieren. Der Komplexität der Ereignisse wird das Bild aber nicht gerecht, das Bild enthistorisiert und bietet damit einen kondensierten Schnappschuss." Soziale Netze seien die globalisierte Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft, in der Bilder und Worte stark mobilisierend wirken können. Dennoch sagt sie: "Wir stehen in der Türkei, in Brasilien oder davor in der arabischen Welt nicht vor einem ganz neuen Phänomen. Nur der Informationsfluss läuft deutlich rascher als früher, als man noch allein auf Zeitungen, Fotos, Hörfunk oder TV angewiesen war."

Wodak erinnert an den tschechischen Studenten Jan Palach, der sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Sowjetunion zum Zeichen des Protestes selbst verbrannte. Bis heute habe dieser Akt einen Symbolwert für die Demokratisierung Europas. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 3.7.2013)