Michael trägt Badeshorts von Paul Smith, Nadine eine Perlenkette von Chanel.

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Foto: Christoph Pirnbacher

Es gehört zu den Mythen unserer Zeit, dass wir immer freizügiger werden. Die Hosen rutschen über den Po, der Nabel blitzt unter dem T-Shirt hervor, Hotpants werden zu Tanktops kombiniert. Mit derselben Regelmäßigkeit, mit der diese vermeintliche modische Tatsache konstatiert wird, werden allerdings Untersuchungen präsentiert, die genau das Gegenteil herausfinden.

Zum Beispiel eine gerade eben erst durchgeführte Umfrage, was Deutsche tragen, wenn es sie ins Wasser zieht. "Stoff ist weiterhin in", titelten die Agenturen, die die Meldung verbreiteten, und listeten dann eine beeindruckende Liste an Zahlen auf: 44 Prozent der Frauen greifen zum Badeanzug, dagegen nur 26 Prozent zum Bikini. Seit 2010 nahm der Anteil der Badeanzugträgerinnen unter jungen Frauen sogar um ganze 14 Prozent zu. Bei den Männern sind es hingegen 63 Prozent der unter 40-Jährigen, die zu knielangen Bade- und Surfershorts greifen. 2012 waren es noch 59 Prozent.

Geschichte steter Schrumpfung

In Österreich, darf man annehmen, würde eine Untersuchung wohl zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Statt immer weniger Stoff ist am Strand und in den Schwimmbädern neuerdings wieder mehr bedeckte Haut zu sehen. In ein paar Jahren könnte es dann aber vielleicht schon wieder anders aussehen. Die Wellen, die durch die Mode schwappen, betreffen auch die Bademode.

Lange meinte man ja, dass es auch in der Bademode nur die Entwicklung in eine Richtung gibt: "Der Siegeszug des Bikinis kann als eine Geschichte steter Schrumpfung gelesen werden", schreibt etwa Stefanie Schütte in ihrem Glossar unentbehrlicher Kleidungsstücke. Trugen Marilyn Monroe oder Diana Dors in den 1950er-Jahren noch eher prüde Modelle, entwarf dann Rudi Gernreich 1964 mit seinem Monokini ein zwar busenfreies Modell, dafür aber eines mit vergleichsweise großem Hinterteil.

In den 1980er-Jahren kam dann das fast pofreie Modell mit G-String-Tanga auf. Kleiner konnte es fast nicht mehr werden - bis Karl Lagerfeld dann Mitte der 1990er-Jahre ein Mikromodell mit einem gerade die Brustwarzen bedeckenden Oberteil vorstellte. Damit war das Ende der Kleiderstange dann aber wirklich erreicht. Alles was daraufhin hätte kommen können, wäre mit freiem Auge nicht mehr wahrnehmbar gewesen.

Mit Teelöffel, nicht mit Schöpfkelle

Das Pendel musste also in die andere Richtung ausschlagen. "Weibliche Nacktheit", hat Coco Chanel einmal gesagt "muss man den Männern mit dem Teelöffel geben, nicht mit der Schöpfkelle." Offensichtlich scheint man sich plötzlich wieder an dieses Diktum der Modeschöpferin erinnert zu haben. Über die Bildschirme hopsten zwar die Badenixen von Baywatch und Co und tanzten Berühmtheiten wie Paris Hilton oder Lindsay Lohan im Bikini und Hotpants durch die Nacht, mit dieser demonstrativ zur Schau gestellten Freizügigkeit ging aber sofort wieder eine Gegenbewegung einher.

Aus einem emanzipatorischen Projekt wurde ein Spiel rund um die Frage, wer die modische Deutungshoheit für sich beanspruchen könne. Die nackte Haut ist dabei nur mehr in wenigen Fällen der Spielball von Anstand und Moral, sondern eine Frage der Distinktion. Die Retro-Welle, die in den vergangenen Jahren durch die Bademode schwappte, ist dafür ein gutes Beispiel.

Plötzlich waren Modelle modern, die man früher höchstens an der eigenen Großmutter akzeptiert hätte. Das hatte aber nichts damit zu tun, dass man sich auch deren moralische Weltsicht übergezogen hätte, sondern war ein neckisches Spiel mit Requisiten aus der Vergangenheit. Dass man es dabei auch immer mit der Frage zu tun hat, wie viel nackte Haut man zeigen dürfe, das macht dieses Spiel um so spannender. (Stephan Hilpold, Rondo, DER STANDARD, 12.7.2013)