Zürich - Manche entwicklungsgeschichtliche Innovationen dienten ursprünglich einem anderen Zweck als jenem, für den sie heute erfolgreich eingesetzt werden. Der aus Österreich stammende Evolutionsbiologe Andreas Wagner von der Universität Zürich hat mit seinem Kollegen Aditya Barve nun gezeigt, dass dieses Prinzip der Zweckentfremdung auch in Stoffwechselvorgängen zur Anwendung kommt. Ihre Ergebnisse präsentieren die Forscher im Journal "Nature".

Exaptation

Schon Charles Darwin schrieb in seinem Standardwerk "The Origin of Species", dass es Organe gibt, die ursprünglich einem Zweck dienen, später aber für einen anderen verwendet werden. Einen Namen bekam die Idee allerdings erst 1982 von den Paläontologen Stephen Jay Gould und Elisabeth Vrba. Seitdem wird unter "Exaptation" die Nutzbarmachung einer Eigenschaft für eine Funktion verstanden, für die sie ursprünglich nicht entstanden war.

"Die Häufigkeit solcher Exaptationen war damals eigentlich sehr umstritten", so Wagner im Gespräch. Der Grund dafür liegt in der Annahme, dass "die meisten Merkmale, die wir an einem Organismus sehen, dafür entstanden sind, wofür sie auch heute noch eingesetzt werden", es sich also um funktionsgebundene Anpassung (Adaptation) handelt.

Mit der Zeit fanden Wissenschafter allerdings immer mehr Beispiele für Exaptation. So wurde etwa klar, dass sich Tiere bereits mit Federn schmückten, bevor ihre besonderen Eigenschaften ihnen das Fliegen ermöglichten. Und die durchsichtigen Proteine in den Linsen unserer Augen sind ursprünglich Enzyme, die in Stoffwechselprozesse involviert sind - eine Funktion, die sie in den meisten Organismen auch heute noch ausüben.

Untersuchung von Stoffwechselprozessen

"Das Problem, dem wir in unserer Studie begegnen, ist, dass man bisher keine systematische Vorstellung davon hatte, was eigentlich häufiger ist - Adaptionen oder Exaptationen", sagte Wagner. Die Forscher konnten nun anhand von Computersimulationen grundlegender Stoffwechselprozesse Hinweise darauf finden, dass bei diesen Prozessen Exaptationen deutlich häufiger als bislang angenommen vorkommen.

Stoffwechselprozesse (Metabolismen) sind Abfolgen hochkomplexer biochemischer Reaktionen. Bisher wurden etwa 5.000 identifiziert, die in verschiedenen Organismen ablaufen. "Jeder Organismus kann einen Teil dieser Reaktionen ausführen, aber keiner kann alle ausführen. Wir haben eine Methode entwickelt, um systematisch alle Metabolismen einer bestimmten Eigenschaft zu studieren", erklärte Wagner. Das Resultat ist eine Stichprobe, in der alle Stoffwechselprozesse Glukose als einzige Kohlenstoff- und Energiequelle nutzen. Bei der Analyse zeigte sich, dass "sie sozusagen zufällig, noch auf Basis mehrerer anderer Kohlenstoffquellen lebensfähig sind, ohne dass wir sie danach ausgesucht haben", so der Forscher.

Die mögliche Schlussfolgerung: Auch ein sehr spezialisierter Organismus, der lange in einer isolierten Umgebung von einer bestimmten Kohlenstoffquelle gelebt hat, könnte in anderen Umwelten lebensfähig sein, mit denen er nie in Berührung kam - ohne sich lange daran gewöhnen zu müssen. Ihre Ergebnisse wollen die Wissenschafter nun in Laborexperimenten überprüfen. (APA/red, derStandard.at, 15.7.2013)