Knigge hin oder her: Es gibt Situationen, wo es bequemer ist, oben ohne zu essen.

Illustration: Andrea Maria Dusl

Pro: Ketchup im Brusthaar
Von Dominik Kamalzadeh

Es muss ja nicht wie im Dusl-Bild oben bei fein gedecktem Tisch sein. Zur Stoffserviette passt die Baumwolle wirklich besser. Es muss auch nicht im Schwimmbad sein, um der Schnitzelsemmel einmal ganz nah zu kommen, während sich der Dunst von Frittierfett mit dem des Tischnachbarn gegen einen selbst verschwört. Aber unter der Sonne gibt es Situationen, wo es bequemer, sogar schlauer ist, oben ohne zu essen: Wassermelonen, die herrlich trenzen, Eiscreme, die beim besten Willen nicht so schnell aufgeschleckt werden kann, wie sie schon wieder schmilzt, oder pralle Burger, die ohnehin mit keinem Besteck belästigt werden sollen.

Wer derlei Dinge gern verspeist, dem dient der sommerlich nackte Oberkörper als passendes Auffangbecken, das schnell wieder sauber gemacht ist. Klar, den geeigneten Ort für solch gemäßigte Grenzüberschreitungen muss man mit ein wenig Feingefühl auswählen - aber wenn man ein wenig darauf achtet, wer einen mit Ketchup im Brusthaar und Pfirsichresten im Nabel erblickt, hat man etwas mehr vom Leben. 

Kontra: Pulli für den Dickwanst
Von Doris Priesching

Angesichts der rapide wachsenden Anzahl von Wohlstandsbäuchen, halte ich es für angebracht, mich auf den Anstandswauwau des 18. Jahrhunderts zu berufen. Freiherr Adolph Knigge schreibt: "Die korrekte Einhaltung der Tischmanieren gelingt am besten dann, wenn man dabei berücksichtigt, dass gute Tischmanieren nicht ein Mittel der Selbstdarstellung sind, sondern den gemeinsamen Verzehr von Speisen für alle Beteiligten zu einem Vergnügen machen sollen, das nicht durch störende Geräusche oder unschöne Anblicke beeinträchtigt werden darf."

Mit Knigge ist gemeinsames Essen als sozialer Akt unter zivilisierten Menschen mit moralischem Anspruch zu verstehen: Es ist nicht egal, wie sich das Gegenüber mit Messer und Gabel aufführt, und es ist schon gar nicht egal, wenn sich auf der anderen Seite des Tisches nackte Haut über Essen hermacht, egal ob sie vom allseits als gefällig erachteten Muskelberg stammt oder vom Dickwanst mit Schweißrinne. Nicht alles, was erlaubt ist, muss man sich auch gefallen lassen. (Rondo, DER STANDARD, 26.7.2013)